Kolumne: Talent (8)
„Mama!“
Rebecca setzte sich zu ihrer Mutter ins Wohnzimmer. Die Mutter wunderte sich, war es doch eine Seltenheit, dass ihre Tochter sie ansprach. Sie war gewohnt, dass Rebecca, wenn überhaupt, mit ihrem Vater redete.
Rebecca war an diesem Morgen aufgewacht, die Sonne schien auf ihre Bettdecke. Sie zog den Pyjama aus und stand vor dem Kleiderkasten. Automatisch griff sie nach ihrer Uniform – Jeans und T-Shirt. Im Zimmer war kein Spiegel. Sie ging ins Badezimmer, Katzenwäsche. Dann sah sie an sich herunter. Sie war fünfzehn und eine junge Frau. Sie fasste an ihren Busen und dachte, vielleicht ziehe ich heute den BH an. Die Mutter kaufte für sie ein. Rebecca war mit allem einverstanden. Da war auch ein rotes Kleid, das sie noch nie getragen hatte. Sie zog sich frische Unterwäsche an. Der BH war noch in Seidenpapier eingeschlagen. Das Kleid passte und fühlte sich angenehm an.
„Mama.“
Die Mutter legte ihre Handarbeit beiseite. Sie stickte mit buntem Garn und ließ so den Tag vergehen und die Tage.
„Ja, Rebecca?“, sagte sie. „Schön, dass du zu mir kommst. Setz dich. Wie hübsch du mit dem Kleid aussiehst.“
„Mama, ich wollte mich bedanken, dass du Sachen für mich einkaufst. Für mich ist es selbstverständlich, das dürfte es aber nicht sein.“
„Rebecca“, sagte die Mutter, „inzwischen weiß ich, dass du dich nicht absichtlich so gewählt ausdrückst, aber …“
Rebecca ließ sie nicht ausreden. „Ich wollte dich fragen, was du davon hältst, wenn ich nach der Schule eine Schreinerlehre anfange.“
Wenn Rebecca die Mädchen in der Schule beobachtete, wie sie in ihre Handys starrten, sich selbst fotografierten, dabei lächelten, wie sie sonst nie lächelten, sonst nämlich schauten sie meistens schlecht gelaunt drein, da kam sie sich vor, als gehöre sie zu denen nicht. Nicht und nie bis zum Tod. Die Mädchen gingen ihr aus dem Weg. Rebecca war ihnen nicht geheuer. Sie hatte irgendwann ihr Handy verloren und sich kein neues beschafft. Sie nannten sie „das Gespenst“.
„Schön finde ich, dass auch du dich inzwischen um dein Aussehen kümmerst“, sagte die Mutter, auf Rebeccas Frage ging sie nicht ein. „Ich hatte Sorge, dass dir das gleichgültig ist. Dabei ist es wichtig. Das erscheint dir vielleicht oberflächlich, aber das ist es nicht. Man macht sich für sich selbst schön. So wird auch der Tag schön. Soll ich dir die Haarspitzen schneiden?
Seit zwei Monaten hatte Rebecca nicht mehr mit Luis gelernt. Aber jede Woche hatte ihr sein Bruder das Geld gebracht. Die Scheine lagen glattgestrichen in einer Pralinenschachtel.
Linus hatte irgendwann gesagt: „Wenn du den Luis schon nicht lässt, dann lass wenigstens mich.“
„Was?“, hatte sie gefragt.
„Wenn ich nicht wüsste, dass du hypergescheit bist, würde ich denken, du bist blöd.“
„Was soll ich dich lassen?“
Angreifen wollte er sie. Ihren Busen angreifen wollte er. Einstweilen. Später mehr. So drückte er sich aus.
„Es könnte sonst sein“, sagte er, „dass ich meinen Eltern melde, dass du nichts für den Deppen tust, aber abkassierst. Mein Vater haut nicht gern Geld zum Fenster hinaus.“
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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