Kolumne: Die Frau im Wald
Mein Mann und ich, wir haben die Angewohnheit, beieinander im Bett zu liegen und uns gegenseitig Geschichten zu erzählen. An einem Novemberabend verkrochen wir uns, und er erzählte mir unter der Decke folgende Geschichte, die wahr sei, also nicht erfunden.
Als junger Mann war er als Praktikant an einem Gymnasium in einer Kleinstadt in Hessen gewesen, betreut von einer begeisterten Lehrerin. Sie liebte die Schüler, und die Schüler liebten sie.
Diese Frau fand man, tot in einem dichten Wald, angebissen von Tieren. Sie war ein Jahr vermisst gewesen, und man hatte vermutet, sie sei auf und davon.
Am Anfang, gleich als mein Mann sie getroffen hatte, erzählte sie ihm, warum sie immer so im Stress sei, sie ging nicht, sie rannte durch die Schule, nämlich weil sie einen lebensunfähigen Mann habe, von tiefen Depressionen geplagt, er käme von allein nicht aus seinem Pyjama, er esse nichts, wenn sie nicht da sei, und wasche sich nicht. Vernachlässige seine Studien, so dass seine Doktorarbeit nie ein Ende fände. Sie war es auch, die ihren Sohn in die Kinderstätte brachte und abholte. Sie war es, die in der Schule alles, überhaupt alles organisierte, die Feste, die Elternabende, die außertourlichen Kurse, sie war besessen von Arbeit. Ihre Augen aufgerissen, sagte sie, ihr Mann habe nun endlich eine Lösung für sich gefunden, er wolle, wie dazumal Goethe, um seiner Depression zu entkommen, in den sonnigen Süden fahren, dorthin, wo die Zitronen blühen. Er fuhr davon, und als er nach einem halben Jahr wiederkam, trug er feine Kettchen an den Handgelenken, grobe an den Fußgelenken, er lachte viel und war über alle Maßen fidel. Er vollbrachte seine Doktorarbeit im Nu und wollte von nun an als Doktor tituliert werden. Er lud fremde Frauen zum Tanzen ein und war nur noch selten zu Hause anzutreffen. Seine Frau rannte nun nicht mehr, sie ging, und leise wurde sie, traurig, alle Begeisterung fiel von ihr ab wie Laub im Herbst, und bald war sie verschwunden. Die Schüler vermissten sie sehr. Nach einem Jahr fand man sie, angebissen von Tieren, kaum zu erkennen, in diesem Wald in Hessen, der düster war und undurchdringlich wie die Wälder in den Märchen.
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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