Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Kolumne: In einem Wohnblock

Vorarlberg / 15.10.2025 • 08:00 Uhr

Unsere Familie wohnte in einem Wohnblock mit drei Stockwerken, viel lieber hätten wir ein Häuschen mit Garten gehabt. Wir kannten die Mieter vom Sehen, grüßten sie, hatten aber wenig Kontakt, weil unser Vater der Meinung war, das sei am besten im Sinne eines problemlosen Zusammenlebens. Wir Kinder spielten im Hof, die Hausfrauen klopften Teppiche aus. Es roch nach Kraut und Weichspüler, nach Zwiebeln und Angebranntem.

Über uns wohnte eine Familie mit vier Kindern, drei Buben, ein Mädchen. Wir hörten sie oft streiten, die Mutter hatte eine schrille Stimme, von der verstand man jedes Wort.

Einmal kam unserer Stiefmutter in die Küche gestürmt und rief, auf dem Balkon liege eine dicke Staubschicht, so als hätte jemand seinen Kehricht auf uns geschüttet. Auch die Familie unter uns und die Familie im Erdgeschoß hatten dicken Staub auf ihren Balkonen, und durch die offenen Fester war zudem Staub ins Wohnzimmer gewirbelt. So ging die Frau vom Erdgeschoß in den ersten Stock und beklagte sich. Der Balkon wurde vorgewiesen, und man war sich einig, der Dreck musste von weiter oben kommen. Man traf sich vor der Tür im zweiten Stock, also vor unserer, und unsere Stiefmutter sagte, auch wir hätten das gleiche Problem. Die Frau vom Erdgeschoß und die vom ersten Stock sahen sich auch die Sauerei auf unserem Balkon an und auch den Dreck am offenen Wohnzimmerfenster. Die Übeltäter mussten also im dritten Stock wohnen. Unsere Eltern wollten lieber nicht in den dritten Stock hinauf, sie sagten, sie werden den Dreck wegputzen und vergessen.

Es stellte sich heraus, dass aus dem dritten Stock vier volle Staubsaugerbeutel aus dem Fenster geleert worden waren. Wer hatte das getan? Und warum? Die Brüder beschuldigten ihre Schwester, die log es erst weg und weinte. Schließlich gab sie es zu. Ja, sie habe den Deck über Wochen gesammelt, habe die Beutel unter ihrem Bett versteckt, als Grund gab sie an, sie werde immer nur geschimpft, auch wenn sie unschuldig sei, da wollte sie eben einmal schuldig sein, und so hatte sie den Dreck aus dem Fenster geschüttelt.

Ihr Vater befahl ihr, sich bei allen Hausbewohnern zu entschuldigen. „Bei allen!“
„Der Dreck ist doch nur auf unserer Seite“, sagte sie kleinlaut.

„Bei allen!“

Das Mädchen klingelte zuerst im Erdgeschoß und musste sich anhören, sie sei ein Fratz und gehöre versohlt. Das Gleiche im ersten Stock.

Unser Vater sagte: „Lass es gut sein und tu das nie wieder.“

Auf der Seite, wo kein Staub war, wunderte man sich über das Mädchen, sie stammelte unter Tränen ihre Entschuldigung, aber weil bei ihnen nichts geschehen war, steckte man ihr ein paar Pralinen aus einer geöffneten Schachtel zu – wegen Ehrlichkeit.

Ich habe nie von einem Nachbarn eine Praline geschenkt bekommen.

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.