Kolumne: Wie Romanfiguren
Neulich sagte mein Mann zu mir: „Wir bewegen uns wie Romanfiguren.“
Wir sind zwar im wirklichen Leben, sind aber im Laufe unserer langen Zeit zu Romanfiguren geworden. Erzählt uns eine reale Person eine Geschichte, münzen wir sie zu unserer Geschichte um. Wir verändern, erhöhen, untertreiben, so dass sie eine fremde Kontur bekommt.
Mein Mann sagt: „So gesehen ist der Beruf des Schriftstellers nicht seriös.“
Ich wehre mich dagegen.
Es ist ein schöner Beruf, und ich weiß, vielen Menschen macht das Lesen von Büchern Vergnügen.
Ich saß unter Frauen, und wir redeten über das Unbewusste. Eine Frau sagte, sie habe gelesen, dass das Verdrängen etwas Gutes habe, es bewahre vor schlechten Erinnerungen. Sie zum Beispiel habe nach einer Therapie keinen Schlaf mehr gefunden, weil sie immer an ein Erlebnis dachte, das sie als Mädchen gehabt hatte. Sie sei mit fünfzehn Jahren gut entwickelt gewesen, habe einen Busen gehabt wie eine Frau. Sie sei darauf stolz gewesen, habe eine enge Bluse getragen und sei sich begehrenswert vorgekommen. Sie stand am Bahnsteig in Dornbirn und wartete auf ihren Zug. Da waren Schüler, Männer und Frauen mit Taschen und Koffern.
„Ein Rollstuhlfahrer winkte mich zu sich“ erzählte die Frau. „Ich ging hin, weil ich gelernt hatte, dass man mit benachteiligten Menschen anständig umgehen soll. Ich beugte mich zu ihm nieder, und ehe er anfing zu sprechen, griff er mir an den Hals und mit einem kräftigen Ratsch riss er mir die Bluse auf, die silbrigen Knöpfe spickten weg. Ich war so erschrocken und drückte meine Arme gegen die Brust, verdeckte mich, so gut es ging. Ich weiß nicht, ob uns jemand der Reisenden beobachtet hatte, der Zug fuhr gerade ein. Jedenfalls machte keiner Anstalten, mich zu fragen, was mit mir geschehen sei. Ich stand gebeugt am Ausgang, zum Glück hatte ich nur zwei Haltestellen zu fahren, dann stieg ich aus und rannte nach Hause. Meine Mutter erschrak, als sie mich so verstört sah, und fragte. Ich erzählte und weinte. Sie nahm mich in die Arme und tröstete mich. Wir haben das Geschehen beide verdrängt. Nach Jahren fragte ich meine Mutter, warum haben wir damals keine Anzeige gemacht, und sie sagte entschuldigend, weißt du, das war der Schock, wir wollten nicht darüber reden, kein Aufsehen erregen, auch deshalb nicht, weil der Täter ein Behinderter war. Bei der Therapie ist mir das alles wider eingefallen, und seitdem bekomme ich es nicht mehr aus dem Kopf. Ich wollte, ich hätte es beim Verdrängen belassen.“
Ich erzähle diese Geschichte als Schriftstellerin, sie ist über vierzig Jahre alt, und trotzdem hoffe ich, niemand vor den Kopf zu stoßen. „Schreib es auf“, sagte mein Mann. „Das ist dein Beruf. Mehr kann man von dir nicht verlangen.“
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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