Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Kolumne: Familiendickicht

Vorarlberg / 26.11.2025 • 09:08 Uhr

Eine Mail aus Kiel erreichte mich, geschrieben von einem Mann, den ich nicht kannte. Er habe gehört, dass ich Geschichten sammle. Er sei im Süden auf Urlaub, und wenn ich möchte, könnte er mich in Lindau treffen. Ich bat meinen Sohn mitzufahren. Er würde sich lesend in das genannte Café setzen und uns beobachten.

Der Mann, den ich traf, trug einen Jogginganzug und ein Stirnband. Er zeigte mir seinen Ausweis. Ich setzte mich an den Stuhlrand, wie es so meine Gewohnheit ist, wenn ich mich nicht wohlfühle.

Er erzählte: „Ich bin ein Einzelkind. Meine Mutter hat mich mit fünfzehn Jahren geboren, sie ist jetzt eine alte Frau.“

Sein Vater war siebzehn gewesen, und die beiden waren sehr verliebt. Als Nelly, so hieß seine Mutter, ihrer Familie davon erzählte, war man erst fassungslos, dann wurde verlangt, den Vater zu sehen, und als sie ihn für gut befanden, schmiedeten ihre Eltern einen Plan.

„Es muss dazu gesagt werden, dass meine Familie sehr liberal war und mich über alles liebte. Mein Großvater war Arzt, und er hatte Sorge um sein Ansehen.“

Nelly wurde ein Jahr von der Schule freigestellt – wegen ihrer angegriffenen Lunge. Die Bestätigung verfasste der Großvater. Nelly sah blass aus, sie war zart, eine zerbrechliche Miniatur.

„Mein Großvater stammt aus Charleville in Frankreich und dorthin sollte Nelly ein Jahr gehen, bis ihr Kind, also ich …“ – der Mann im Jogginganzug schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust – „… geboren war. Meine Großmutter würde in der Zeit sich immer legerer kleiden, so dass es aussähe, als wäre sie schwanger. Nach einem Jahr kam Nelly zurück, sie hat mir den Namen Hanns gegeben. Meine Großmutter gab mich als ihr Kind aus.“

Auf meine Frage, wie das amtlich gehandhabt worden sei, antwortete der Mann im Jogginganzug nicht.

„Wir waren nun eine Familie“, sagte er, „mit mir als Baby und meiner Mutter als meiner Schwester. Mein Vater war mit Geld zur Verschwiegenheit verpflichtet worden. Es wurde mir erzählt, dass er hin und wieder auf Besuch kam. Ich erinnere mich nicht. Was ich nie vergessen werde, wie sehr mich Nelly verhätschelte, die Leute sagten, nie hätten sie eine liebevollere Schwester gesehen. Meine Großeltern starben knapp nacheinander, und Nelly zog mit mir nach Kiel. Dort nämlich vermutete sie meinen Vater. Sie hatten sich heimlich Briefe geschrieben. Wir fanden ihn, aber er war inzwischen verheiratet und hatte Zwillinge. Nelly war erst dreiunddreißig. Sie arbeitete bei einem Juwelier, da passte sie gut hin, und der Besitzer verehrte sie. Wir wohnten in Untermiete. Sie wollte nicht mehr meine Schwester sein und erzählte, sie sei meine Mutter. – Wenn das keine gute Geschichte ist!“

„Was bin ich Ihnen schuldig“, fragte ich den Mann im Jogginganzug. Er sagte: „Ein Lächeln genügt.“

Mein Sohn folgte mir.

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.