Reformkraft
Am 25. November 1945 fanden die ersten freien Wahlen in der noch jungen Zweiten Republik statt. Trotz chaotischer Umstände – Wählerverzeichnisse waren mangelhaft, Essen und Energie knapp – gaben 94 Prozent der Wahlbeteiligten (ehemalige NSDAP-Mitglieder waren ausgeschlossen) ihre Stimme ab. Die Hoffnung auf bessere Zeiten verteilte sich auf ÖVP (50 Prozent) und SPÖ (45), die zwar vom zweiten Platz enttäuscht war, aber andererseits die Konkurrenz der KPÖ (5) abwehren konnte. Im Ländle waren die Machtverhältnisse eindeutiger. 70 Prozent wählten ÖVP, 27 die SPÖ und die KPÖ verpasste den Einzug in den Landtag klar.
„Es gilt den Worst Case zu verhindern: Fällt die gesetzliche Mitgliedschaft bei den Kammern, ist die Sozialpartnerschaft tot.“
Im Bund saßen zunächst alle drei Parlamentsparteien in der Regierung, dann bis 1966 ÖVP und SPÖ gemeinsam. In Vorarlberg entschloss sich Ulrich Ilg trotz der ÖVP-Dominanz für eine schwarz-rote Koalition. Die Devise lautete Zusammenhalten, um das Vertrauen der Bevölkerung in die noch junge Demokratie zu stärken. Zwei Parteien sollten sich die nächsten Jahrzehnte die Republik aufteilen und sich in vielen Bereichen (teilweise zu) gemütlich einrichten. Aber es ging ja für alle aufwärts bei Wohlstand, Sicherheit und Freiheit.
Heute ist weder von Aufschwung oder Vertrauen, noch von der gemeinsamen Mehrheit viel übrig. Nach den Wahlen 2017 und 2019 wollten ÖVP und SPÖ nicht mehr miteinander, nach der Wahl 2024 reichte es nicht mehr zu zweit. Heute müssten die ehemaligen Großparteien um eine gemeinsame Sperrminorität gegen Verfassungsänderungen bangen. Jüngst publizierte Umfragen aus der Steiermark und Oberösterreich, zwei Bundesländer mit der FPÖ in Regierungsverantwortung, lösten zusätzliche Panik in den Parteizentralen aus.
Die einigende Klammer der Sozialpartnerschaft kämpft mit eigenen Problemen, vor allem die Wirtschaftskammer. Heute trifft sich ihr Parlament und wird über notwendige Reformen debattieren, um den Zorn ihrer Mitglieder zu besänftigen. Allen dort ist wohl bewusst, dass der Rücktritt Harald Mahrers oder minimale Kosmetik nicht ausreichen. Es gilt den Worst Case zu verhindern: Fällt die gesetzliche Mitgliedschaft bei den Kammern, ist die Sozialpartnerschaft tot.
Bundeskanzler Christian Stocker, endlich aus dem Homeoffice zurück, beschwört 80 Jahre nach dem großen Erfolg von ÖVP und SPÖ mahnend die politische Kraft der Mitte. Tatsächlich sieht er sich einem Reformstau und wachsender gegenseitiger Abneigung nicht nur zwischen den Regierungspartnern gegenüber. Glaubt man Umfragen zweifelt die Bevölkerung am Willen für notwendige Veränderungen sowohl bei der Bundesregierung, der ÖVP als auch bei der Wirtschaftskammer. Inzwischen steht die FPÖ nicht mehr nur für Kontrolle im Proporzstaat, sondern auch für Reformkraft. Es könnte allerdings ein Aufbruch in unsolidarische Zeiten sein. Ganz anders als vor 80 Jahren.
FH-Prof. Kathrin Stainer-Hämmerle, eine gebürtige Lustenauerin, lehrt Politikwissenschaften an der FH Kärnten.
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