S’Jokili vom Tanafreida

Jakob Netzer lebte viele Jahr lang als Einsiedler auf dem Maisäß Tanafreida.
St. Gallenkirch. (VN-kum) Für seine Freunde und Bekannten ist Jakob Netzer das Jokili. Mit diesem Kosenamen ist er durchs Leben gegangen. Seine Ahna und sein Ehni haben ihn ihm verliehen. Bei ihnen wuchs Jakob die ersten sieben Jahre seines Lebens auf. Jakobs Eltern betrieben eine kleine Landwirtschaft. „Von Mitte Mai bis Mitte Juni sind wir mit dem Vieh immer auf das Maisäß am Tanafreida gegangen“, erinnert er sich. Und: „Als Jugendlicher hütete ich zwei Sommer das Vieh auf dem Tanafreida.“ Dem Jokili hat es dort oben immer gut gefallen. Als seine Eltern starben, vererbten sie ihm die Almhütte. „Ich habe sie dann mit viel Liebe restauriert.“
Strenge Winter erlebt
Nach einem Arbeitsunfall verboten die Ärzte dem Polier, wieder zu arbeiten: „Ich bin von einem Dach sechs Meter in die Tiefe gefallen und wurde in Pension geschickt.“ Ab da verbrachte der dreifache Vater mehr Zeit auf dem Tanafreida. Als im Jahre 1992 seine Frau starb, zog er ganz auf das Maisäß. 13 Jahre wohnte er das ganze Jahr über dort oben. „Im Winter war ich immer ganz allein am Tanafreida.“
Einmal wöchentlich fuhr er mit dem Skidoo ins Tal zum Einkaufen. S’Jokili erlebte strenge Winter auf dem 1350 Meter hoch gelegenen Maisäß. „Oft hat man vor lauter Schnee die Straße nicht mehr gesehen.“ Er erinnert sich an Tage, an denen er mehr als drei Stunden Schnee schaufelte. Die Tage vergingen schnell, denn s’Jokili wusste sich zu beschäftigen. „Ich bin hinter einem Stein gehockt und habe die Hirsche an der Futterstelle beobachtet. Oft sind bis zu 50 Tiere gekommen.“ Auch den Skifahrern am gegenüberliegenden Berg schaute er mit Hilfe eines Fernrohrs zu. „Mir ist nichts entgangen. Im Sommer habe ich den Leuten beim Heuen und Bauen zugesehen und das Vieh auf der Alpe beobachtet. Mit dem Teleskop konnte ich jedes Kälblein sehen.“
Einsam fühlte sich der Witwer am Berg nie. Wenn er Lust auf Gesellschaft hatte, lud er seine Familie oder Freunde ein. Die Jasskollegen etwa besuchten ihn alle 14 Tage. „Das war jedes Mal ein Fest. Wir haben gespielt, gegessen, getrunken, gesungen, musiziert und Zigarre geraucht.“ Der Einsiedler genoss das Leben auf dem Maisäß. Als Maisäßvogt kümmerte er sich aber auch um seine Mitbewohner. Ihm ist es zu verdanken, dass es heute in allen Häusern auf dem Tanafreida Wasser und Strom gibt. Stolz ist er auch darauf, dass er den Kuhstall in Eigenregie zu einer Wohnung umgebaut hat. „Das Arbeiten half mir über den Tod meiner Frau hinweg.“
Fast erstickt
Mit zunehmenden Alter wurden die Winter auf dem Tanafreida für ihn beschwerlicher. „In den letzten sieben Jahren lebte ich nur mehr die Hälfte des Jahres auf dem Maisäß.“ Im vergangenen Herbst wäre er oben fast erstickt. „Ich bekam plötzlich keine Luft mehr. Zum Glück konnte ich noch die Rettung verständigen. Im Krankenhaus sagten mir die Ärzte, dass die Luft dort oben für mich zu dünn sei. Sie meinten, wenn ich noch länger leben wolle, dürfe ich nicht mehr auf der Almhütte bleiben.“
Weil ihm die Gesundheit wichtiger ist als das Maisäß, wohnt er heute bei seinem Sohn in Bludenz. Gerne denkt der 90-Jährige aber an die Zeit auf dem Tanafreida zurück. Manchmal überkommt ihn die Sehnsucht. Dann fährt er mit seinem Sohn Friedrich auf die Hütte, setzt sich vors Haus, zündet sich eine Zigarre an und genießt den Ausblick auf die Berge und das Tal.
Ich habe die Hirsche an der Futterstelle beobachtet.
Jakob Netzer
Zur Person
Jakob Netzer
zog vor zwanzig Jahren auf sein Maisäß auf dem Tanafreida.
Geboren: 5. August 1925
Ausbildung: Polier für Hoch- und Tiefbau
Familie: verwitwet
Hobbys: Jassen, Handorgel spielen