Vom Glück einer Krise

Wetter / 23.12.2015 • 18:53 Uhr
Jürgen Seegerer kann gut nachvollziehen, wie es „seinen“ Bewohnern so geht.  Foto: vn/roland Paulitsch
Jürgen Seegerer kann gut nachvollziehen, wie es „seinen“ Bewohnern so geht. Foto: vn/roland Paulitsch

Nach Absturz arbeitet Jürgen Seegerer jetzt im Nachtdienst im ­Kaplan Bonetti Haus. 

dornbirn. (VN-mm) Jürgen Seegerer ist ein Baum von einem Mann. Nichts, so scheint es, kann diesen Hünen aus der Bahn werfen. Doch genau das passierte. Der Dornbirner mit dem markanten Rauschebart war ganz oben und irgendwann ganz unten. Inzwischen hat er seine Mitte gefunden. Seit zweieinhalb Jahren arbeitet Jürgen Seegerer im Nachtdienst im Kaplan Bonetti Haus. Er ist da, wenn es dunkel wird, draußen und in den Seelen mancher Bewohner. Er spricht von eigenen Gesetzen und Stimmungen, welche die Nacht mit sich bringt. Von netten Gesprächen, die sich entwickeln, wenn jemand schlaflos und einsam ist, aber auch von Situationen, in denen er durchgreifen muss. Und manchmal stößt Jürgen Seegerer damit an seine persönlichen Grenzen. Trotzdem: „Hier habe ich das Richtige gefunden“, sagt er ohne große Umschweife.

Jobangebot

Der Weg dahin war jedoch ein steiniger: Zuerst Trafikant, dann österreichweit bekannter Zigarrenfachmann, schließlich noch Hoteldirektor und zuletzt Besitzer eines kleinen Cafés. Auf der persönlichen Ebene lief es weniger gut. Zwei Ehen gingen in die Brüche. Sie kosteten ihn Kraft und Geld. Es folgte der finanzielle Absturz. Jürgen Seegerer jammert nicht. Seine Stimme ist fest, sein Blick hinter der randlosen Nickelbrille klar. Er blickt ohne Groll zurück, räumt ein, dass er mit Druck nie gut habe umgehen können. Er schlitterte in ein längeres Burn-out. Später holte er sich Hilfe beim Institut für Sozialdienste. „Dort bekam ich gleich das Angebot, zeitweise in einer Beratungsstelle zu arbeiten“, erzählt er.

Bald erwachte in Jürgen Seegerer jedoch der Wunsch nach einem ganztägigen Job. Da kam ihm die Stellenausschreibung der Kaplan Bonetti Sozialwerke, in der ein Nachtdienst- und Wochenendmitarbeiter gesucht wurde, wie gerufen. Jürgen Seegerer war in seinem neuen Leben angekommen. Dort fand er auch seinen persönlichen Ausgleich zur Sozialarbeit. Aus finanziellen Gründen hat er nämlich eine eigene Reisetugend entwickelt. Der sympathische Glatzkopf durchquert die Balkanländer zu Fuß. So ist er beispielsweise die gesamte Donau von der Quelle bis zur Mündung hinuntermarschiert. „So etwas entsteht nicht aus dem Glück, sondern aus der Krise“, merkt Jürgen Seegerer mit einem feinen Lächeln an.

Besondere Momente

Wie viele Kilometer ihn seine Füße schon getragen haben, vermag er nicht zu sagen. Aber die Sehnsucht nach dem Laufen, die Suche nach Neuem sei irgendwie immer da gewesen. Im kommenden Jahr möchte er vom Schwarzen Meer bis Rumänien laufen. Es ist für ihn keine Entbehrung. Aber er weiß auch ein bisschen Luxus zu schätzen. Als solchen sieht er den Urlaub, zu dem ihn seine 77-jährige Mutter jedes Jahr einlädt. Im Herbst waren die beiden in der Toskana. „Meine Mutter ist eine großartige Reisepartnerin“, schwärmt er. Die Weihnachtsabende wird sie jedoch ohne ihn verbringen müssen. Heute, morgen und übermorgen schiebt Jürgen Seegerer Dienst im Kaplan Bonetti Haus. Er tut es gerne. Denn er mag die besondere Atmosphäre und die besonderen Momente, die diese besonderen Nächte mit sich bringen. Jürgen Seegerer ist in seinen Ansprüchen bescheiden geworden. Gleichzeitig fühlt er sich befreit und vor allem wohl bei dem, was er jetzt tut.

Die Sehnsucht nach dem Laufen war immer irgendwie da.

Jürgen Seegerer

Zur Person

Jürgen Seegerer

Familienstand: geschieden, ein Sohn

Wohnort: Dornbirn

Beruf: Mitarbeiter bei den Kaplan Bonetti Sozialwerken

Hobbys: Reisen auf Schusters
Rappen, Radfahren