Wahrnehmung: Haben Tiere einen Supersinn?

Sicher ist: Tiere sind mit weitaus mehr Sinnesorganen ausgerüstet als der Mensch.
Schwarzach. Über 230.000 Menschen kamen im Dezember 2004 durch den Tsunami in Asien ums Leben. Tierkadaver wurden in allen betroffenen Ländern nur sehr wenige entdeckt. Und diese waren fast ausschließlich in Zoo-Käfigen eingesperrt oder angekettet. Ahnten die Tiere das Erdbeben und die darauf folgenden Flutwellen voraus? Haben sie einen besonderen Sinn, der sie gerettet hat?
Ein Vorort von Michigan, USA. Der Terrier-Mischling Jaytee setzt sich immer dann ans Wohnzimmerfenster und schaut hinaus, wenn sich sein Frauchen Pamela Smart auf den Heimweg macht. Egal, zu welchem Zeitpunkt sie nach Hause kommt. Und auch dann, wenn sie sich noch außer Hör- und Sichtweite befindet.
Der britische Biochemiker Rupert Sheldrake, der sich zurzeit hauptsächlich mit der Wahrnehmung von Haus- und Nutztieren beschäftigt, will anhand von 100 Videoaufzeichnungen mit dem Hund Jaytee beweisen, dass Tiere über erstaunliche Fähigkeiten zur Wahrnehmung verfügen. In seinem Buch „Der siebte Sinn der Tiere“ schildert er seine Erkenntnisse, die er auf seine Experimente – wie jenes mit Jaytee – und auf Berichte von Tierbesitzern aus aller Welt stützt. Laut Sheldrakes Erfahrung wissen Tiere oft schon lange im Voraus, dass sie zum Tierarzt müssen, dass ihnen die Jungen weggenommen werden, dass ihre Menschen heimkehren. Auch spüren sie, wann ein geliebter Mensch stirbt oder einen Unfall hat. Andere Tiere wiederum finden über enorme Distanzen ihren Weg nach Hause oder reagieren frühzeitig auf Naturkatastrophen.
Magnetsinn der Vögel
Rupert Sheldrake, der wegen seines unkonventionellen Zugangs zur Wissenschaft als Enfant terrible unter den Wissenschaftern gilt, ist davon überzeugt, dass Tiere – und auch Menschen – übersinnliche Fähigkeiten besitzen. Wie ein Großteil der Forscher glaubt der Biologe und Naturwissenschaftliche Berater der inatura, Klaus Zimmermann, nicht daran. Aber: „Ohne Zweifel verfügen Tiere über weitaus mehr Sinnesleistungen als dem Menschen bekannt sind. Und die Summe all dieser Sinne ergibt den Supersinn.“ Wichtige Rollen bei der Wahrnehmung der Tiere spielen laut Zimmermann Erfahrung und Instinkt. „Diese werden im Gehirn verarbeitet und auf dem genetischen Weg an die Nachkommen weitergegeben.“ Augenscheinlich spontane, intuitive Reaktionen von Tieren in heiklen Situationen seien nur so erklärbar.
Tiere riechen, hören und fühlen Dinge, die dem Menschen verborgen bleiben. Seh-, Hör-, Riech-, Tast- und Geschmacksinn des Menschen sind dafür nur unzureichend ausgebildet. „Bei den Tieren gibt es eine unheimliche Fülle von Sinnesorganen und Sinnesleistungen, die bislang nur bruchstückhaft wissenschaftlich erfasst werden konnten“, sagt Klaus Zimmermann. Die Klapperschlange, beispielsweise, hat einen Wärmesinn. Fische und Reptilien nehmen über spezielle Rezeptoren Druckwellen wahr. Bestimmte Vogelarten orientieren sich mittels Magnetsinn nach dem Erdmagnetfeld und finden damit ihre Tausende Kilometer entfernten Winterquartiere. Und Spinnen sind mit einem Schwingungssinn ausgerüstet. „Dieser Schwingungssinn hat dieselbe Funktion wie der Tastsinn beim Menschen“, erklärt der Vorarlberger Biologe.
Plaudern mittels Ultraschall
Elefanten verwenden als Kommunikationsmittel Ultraschallwellen. Plaudern die Rüsseltiere miteinander, auch über eine große Entfernung hinweg, geschieht das im Infraschallbereich mit Frequenzen unterhalb von 16 Hertz. Diese Fähigkeit warnt die Elefanten vor einem Erd- bzw. Seebeben, weil sie die vorauseilende Infraschallwelle wahrnehmen, und treibt sie rechtzeitig in die Flucht. Der Mensch hingegen hört überhaupt nichts. Zu tief sind die Laute für sein Gehör.
Auch andere Tiere sind fähig, Erdbeben und Tsunamis zu erspüren. „Insbesondere Reptilien und Amphibien sind mit ihren empfindlichen Druckrezeptoren dazu in der Lage“, informiert Klaus Zimmermann. Darum werden solche Tiere bereits als lebende Erdbebenwarnsysteme eingesetzt.
Umfassende wissenschaftliche Erklärungen für den „Supersinn“ von Tieren gibt es allerdings bis heute nicht.
Wichtige Rollen bei der Wahrnehmung der Tiere spielen Erfahrung und Instinkt.
Klaus Zimmermann