Zuwendung statt Ritalin

Wissen / 14.06.2013 • 14:17 Uhr
Durch keine Therapie ersetzbar: Für die drei großen Z – Zuwendung, Zärtlichkeit und Zeit – sind die Eltern zuständig. Foto: fotolia
Durch keine Therapie ersetzbar: Für die drei großen Z – Zuwendung, Zärtlichkeit und Zeit – sind die Eltern zuständig. Foto: fotolia

Gefährlicher Trend: Mehr und mehr Kinder werden mit Psychopillen behandelt.

SCHWARZACH. Manuel war zehn, als man ihm die Diagnose „ADHS“ (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätssyndrom) verpasste und er die erste Tablette Ritalin schlucken musste. „Er konnte in der Schule nicht stillsitzen und sich nicht auf den Unterricht konzentrieren“, erklärt die Mutter des Buben. Die Schulpsychologin habe gesagt, Manuel leide an ADHS, mit Ritalin bekäme man so was in den Griff.

Sind Kinder hyperaktiv, impulsiv und unaufmerksam, heißt das noch lange nicht, dass sie krank sind und mit Psychopharmaka behandelt werden müssen. Meist sind solche Kinder schlicht und einfach unangepasst, und deshalb ist der Umgang mit ihnen schwierig. Und doch werden mangelnde Konzentration, Hyperaktivität und „Zappelphilipp-Verhalten“ heute ganz schnell als ADHS diagnostiziert und mit dem Psychopharmakon Ritalin behandelt.

Echte Fälle eher selten

Und so steigt die Anzahl der Verschreibungen dieser Psychopille an. Seit 2004 wurden in Österreich um 90 Prozent mehr Rezepte ausgestellt.

Laut dem Facharzt für Psychiatrie und Drogenexperten, Dr. Reinhard Haller, leiden tatsächlich höchstens fünf Prozent der Kinder an Hyperaktivität, wovon nur etwa 30 Prozent einer medikamentösen Behandlung bedürfen. Darum seien in dieser Frage Zurückhaltung und kritische Beurteilung geboten: „In der Psychiatrie gibt es eine starke Tendenz, jedes auffallende Verhalten als krankhaft zu erklären, jede Abweichung mit einer Diagnose zu etikettieren und jede Abweichung vom Durchschnitt zu pathologisieren“, erklärt er.

„Diese Haltung wird durch die Pharmafirmen, aber auch durch die immer größer werdende psychotherapeutische Industrie gefördert, da es dann ja genug zu behandeln und zu verkaufen gibt.“ Echte Fälle von Hyperaktivität kämen schon vor, seien aber eher selten.

Als Erkrankung gelten solche Verhaltensweisen, wenn die Entwicklung, das Lernverhalten und das soziale Fortkommen darunter leiden, präzisiert Haller. Die Grenze zwischen normalem und krankhaftem Verhalten werde erst überschritten, wenn jemand tatsächlich zu leiden beginnt – entweder die Betroffenen oder ihre Umgebung. „Ein Problem ist die leichtfertige Verschreibung dieses Mittels, wodurch viele Personen erfasst werden, die nicht wirklich krank sind, aber auch viele Störungen behandelt werden, bei denen Medikamente gar nichts nützen. Die besseren Wege sind jedenfalls die intensive Befassung mit den Kindern und ihrer Welt, Fürsorge und Liebe und gemeinsame sportliche Aktivitäten, welche ein gutes Ventil für jegliche Hyperaktivität sind.“

Das rechte Maß

Aber der Griff zum Rezeptblock bzw. zum Medikament sei nun mal viel zeitsparender und weniger mühsam als die Befassung mit dem Menschen. Haller: „Es ist aufwendiger, ein Verhalten zu analysieren, zu reflektieren und zu modifizieren, als eine Tablette zu geben. Die drei großen Z – nämlich Zuwendung, Zärtlichkeit und Zeit – können aber durch keine Therapie und kein Wundermedikament ersetzt werden.“

Natürlich sollte man die nicht-medikamentösen Beruhigungsmittel wie Fernsehen oder Computerspiele hinterfragen, merkt der Psychiater an. „Hier kommt es auf das rechte Maß an, denn allein die Dosis macht das Gift.“

Stichwort

Ritalin. Das Psychopharmakon mit dem Wirkstoff Methylphenidat stuft die amerikanische Drogenbehörde DEA als ebenso gefährliche Droge ein wie Heroin und Kokain. Weltweit sind Millionen Menschen – meist Kinder und Jugendliche – Ritalin-süchtig. Der Hersteller Novartis macht damit ein Milliardengeschäft.