Altern zu dürfen ist ein Privileg

Gesund / 18.03.2016 • 09:09 Uhr
Bettina Sandgahte-Huseboe spricht Klartext. Foto: vn/mohr
Bettina Sandgahte-Huseboe spricht Klartext. Foto: vn/mohr

Trotzdem erfährt es noch zu wenig Wertigkeit, wie die Palliativ­expertin bestätigt.

Schwarzach. (VN-mm) Bettina Sandgahte-Huseboe und ihr Mann Stein gelten als Pioniere bei der Einführung der Palliativmedizin in Pflegeheimen. In Norwegen hat das Ärztepaar ohne lange zu fackeln und zu fragen die erste Palliativstation auf den Weg gebracht. Inzwischen sind Palliativmedizin und Palliative Care in Europa weitgehend etabliert. Was die Anästhesistin und Intensivmedizinerin aber immer noch stört ist, dass Pflege nach wie vor reine Frauensache ist.

Wie haben Sie die Anfänge der Palliative Care erlebt?

Sandgahte-Huseboe: Die Motivation, nach Norwegen zu gehen, war, Palliativmedizin, also gute Fürsorge am Lebensende, auch für alte Menschen zugänglich zu machen. Es gab zu diesem Zeitpunkt nur ein Angebot für Tumorpatienten. Man wusste, dass diese Patienten eine gute Kommunikation, ethische Entscheidungen, Schmerzerfassung, Schmerzbehandlung sowie Symptomerfassung und Symptombehandlung brauchten. So haben wir in Norwegens größtem Pflegeheim mit Palliativmedizin begonnen. Allerdings waren wir völlig schockiert über das, was wir vorfanden.

Warum?

Sandgahte-Huseboe: Palliativmedizin kam kaum vor. Man war froh, wenn der Patient endlich im Sterben lag, damit man ein Problem weniger hatte. Katastrophal jedoch war die Zeit, bevor das Sterben anfing. Keine Kommunikation, keine Schmerzerfassung, keine Schmerzbehandlung, vollkommene Übermedizinierung und Missbrauch von Medikamenten, besonders beruhigenden, keinerlei Aktivitäten mehr: Die Patienten starben nicht aufgrund der Erkrankung, sondern die langweilten sich zu Tode. Das war schwer auszuhalten. Dazu kam, dass, wenn man in einem Pflegeheim arbeitete, selbst sehr wenig wert war. Gleichzeitig wurde der große Bedarf an Pflege deutlich. So kam ganz rasch der Gedanke, dass wir eine Palliativstation brauchen, und dann haben wir eine aufgebaut.

War das auch so schwierig wie in Vorarlberg?

Sandgahte-Huseboe: Wir haben nicht gefragt und einfach vier Doppelzimmer dafür hergenommen. Dann haben wir die Gemeindeverantwortlichen zur Eröffnung eingeladen. Sie waren betroffen, um nicht zu sagen sauer, weil sie erst im Nachhinein um Erlaubnis gefragt wurden. Aber das Projekt war ein Erfolg. Wir bekamen sehr schnell Preise dafür, viele positive Berichte in der Presse, und alle waren plötzlich überrascht, dass man auch die Alten in ihrer letzten Lebensphase etwas anders betrachten kann. Inzwischen ist die Palliativ Care ein Teil der Ausbildung in der Altenpflege. Ins Krankenhaus kommen jetzt auch nur noch die Pflegeheimbewohner, die wirklich eine medizinische Behandlung brauchen. Die anderen werden professionell im Pflegeheim betreut, wo es mindestens drei bis vier festangestellte Ärzte gibt.

Bei uns droht das Projekt „Ärztlicher Koordinator im Pflegeheim“ wieder in der Schublade der verantwortlichen Politik zu verschwinden. Braucht es Ärzte im Pflegeheim also doch, wenn man eine gute Palliativ Care anbieten möchte?

Sandgahte-Huseboe: Ich würde nicht nur von einer medizinischen Koordination sprechen. Ich finde, die Ärzte müssen im Pflegeheim fest angestellt sein. Natürlich ist es verständlich, wenn alte Menschen ihren gewohnten Hausarzt behalten möchten. Andererseits heißt das, das Pflegepersonal muss mit vielen unterschiedlichen Ärzten und ebenso unterschiedlichen Vorgehensweisen zurande kommen. Wenn man jedoch ein Pflegeheim gut führen möchte, muss man eine einheitliche Behandlung hineinbringen, auch in die Haltung zur Palliativmedizin.

Wie lässt sich Palliativmedizin bei dementen Menschen anwenden?

Sandgahte-Huseboe: Die aktuelle Forschung zeigt, dass Patienten mit moderater und schwerer Demenz nicht in der Lage sind, Schmerzen zuverlässig zu erklären. Patienten mit Demenz sind deshalb abhängig davon, dass Angehörige, Pflegepersonal, Ärzte und andere Fürsorgepersonen verbale und nichtverbale Ausdrücke für Schmerzen erkennen und richtig deuten können.

Immer mehr Menschen sterben in Pflegeheimen. Würde es nicht schon aus diesem Grund personell eine adäquate Ausstattung benötigen?

Sandgahte-Huseboe: Ich möchte zu dieser Frage ganz generell feststellen: Dass man im Pflegeheim nicht mehr auf Kompetenz, sowohl pflegerisch als auch ärztlich, setzt, hängt an den Frauen. Alter ist eine Frauensache. Man muss noch nicht einmal Feminist sein, um zu begreifen, dass, müssten erwachsene Männer auf ihre Väter aufpassen, die Situation eine vollkommen andere wäre. Was meinen Sie, wie hoch die Löhne plötzlich wären und wie dafür gesorgt würde, dass Kompetenz zur Stelle ist.

Wird es in Zukunft überhaupt genug Menschen geben, die andere pflegen?

Sandgahte-Huseboe: Es kommt darauf an, in welchem Land man nachschaut.

Schauen wir in Österreich nach.

Sandgahte-Huseboe: Ihr kriegt ein bisschen wenige Kinder. Ihr lebt von der Einwanderung, denn die Einwanderer haben genügend Kinder. Also könnt ihr hoffen, dass die sich um euch kümmern.

Wie ist die Haltung zur aktiven Sterbehilfe in Norwegen?

Sandgahte-Huseboe: Absolut dagegen, weil sie zu viele Möglichkeiten eröffnet, aber beim assistierten Suizid würde es mich nicht wundern, wenn der in zwanzig Jahren etabliert wäre. Wenn wir von alten Menschen reden wird das aber immer ein Problem sein, zumal alte Leute sehr schnell spüren, dass sie im Wege sind und sich möglicherweise gezwungen fühlen, so etwas einzufordern.

Warum ist das Alter im 21. Jahrhundert immer noch so wenig wert?

Sandgahte-Huseboe: Ja, das ist unglaublich, nicht? Denn eigentlich ist es ein Privileg, alt werden zu dürfen. Wir sollten das Leben als Kette sehen, in der die Alten gestärkt werden müssten. Das würde Kosten sparen, und allen ginge es besser.

Zur Person

Univ.-Prof. Bettina Sandgahte-Huseboe

Geboren: 1959 in Warstein/Deutschland

Wohnort: Bergen/Norwegen

Familienstand: verheiratet, 6 Kinder, 10 Enkelkinder

Laufbahn: Anästhesie- und Intensivmedizinerin, Leiterin des Instituts für Global Public Health und Medizinische Grundversorgung an der Universität Bergen, Norwegen