Gesunde sind nicht krank
Im Bestreben, Gesundheit zu erhalten, und in der Sorge, ärztlicherseits etwas zu übersehen, können Untersuchungen und vorbeugende Behandlungen dem Gesunden gelegentlich mehr schaden als nützen. Fast drei Viertel der amerikanischen Ärzte geben in einer 2014 durchgeführten Studie an, dass unnötige medizinische Tests und Behandlungen ein ernstes Problem für das Gesundheitssystem sind und dass sie durchschnittlich einmal pro Woche auf Verlangen des „Patienten“ eine unnötige Untersuchung oder Therapie anordnen. In der Schweiz vertraten 2015 gut die Hälfte der Allgemeinmediziner die Meinung, dass Patienten zu viele unnötige medizinische Leistungen erhalten.
Ich möchte die Problematik aus Sicht der Vorsorgemedizin beleuchten, wo Überdiagnose und Übertherapie eine besondere Brisanz haben. Zunächst ist die Empfehlung für einen gesunden Lebensstil sicher richtig und unschädlich (primäre Prävention: Ernährung, Bewegung, Spiritualität einschließlich positiver sozialer Einbettung, Impfungen, Unfallverhütung und Rauchfreiheit). Damit kann am ehesten das Weiterbestehen der Gesundheit erwartet werden, ohne dass zusätzliche Hilfsmittel wie Geräte oder Nahrungsergänzungen erforderlich sind.
Wesentlich schwieriger ist es bei Gesunden, die sich wohl fühlen, bei der Vorsorgeuntersuchung aber einen leicht erhöhten Wert haben (sekundäre Prävention: Gewicht, Blutzucker, Blutdruck oder Cholesterin). Hier stellen sich zwei Fragen: Wie wird der langfristige Verlauf sein, und wie ist das Verhältnis von künftigem Nutzen und Nebenwirkungen der Therapie? Wir sollten gut abwägen, bevor wir aus Gesunden, die sich wohl fühlen, Kranke mit Therapiebedarf machen.
Anders verhält es sich mit Gesunden, die sich wohl fühlen, jedoch einen deutlich erhöhten Risikofaktor aufweisen. Der Nutzen einer vorbeugenden Therapie ist in den meisten Fällen hoch und die Nebenwirkungen der Behandlung tendieren sogar, niedriger zu sein als bei nur leicht erhöhten Befunden. Die Gesundheitsbilanz ist somit eindeutig positiv pro Therapie.
Die Fachwelt befasst sich immer mehr und intensiver mit der Frage von medizinischen Leistungen, welche die Prognose nicht verbessern oder sogar verschlechtern. Wir unterscheiden dabei verschiedene Grade der Prävention: die primäre Prävention bei Gesunden, die sekundäre bei Risikofaktoren (beides siehe oben), die tertiäre nach Krankheit, das ist die Rehabilitation, und die quartäre Prävention. Letztere verpflichtet sich dem Grundpfeiler der Medizin: „erstens nicht schaden“ (primum nil nocere) und erst in zweiter Linie dem Heilen. Die weltweite Organisation der Hausärzte „Wonca“ und immer mehr wissenschaftliche Fachgesellschaften bemühen sich, in der quartären Prävention Fortschritte zu erzielen.
Das Prinzip: Erstens nicht schaden, zweitens heilen.
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Prim. a. D. Dr. Hans Concin, Präsident aks Verein
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