Das Lebensende als gemeinsame Aufgabe
Die Menschen selbst müssen ihre Vorstellung von einem Ende in Würde definieren.
Hohenems, Bern Seit 2021 ist Prof. Steffen Eychmüller Chefarzt der Abteilung Palliative Care am Inselspital in Bern. Der Palliativmediziner, der vorher am Kantonsspital St. Gallen tätig war, verfügt über große klinische Erfahrung. Am 24. November 2023, hält Eychmüller auf Einladung der Gesellschaft zur Unterstützung der Palliative Care in Vorarlberg im Löwensaal in Hohenems einen Vortrag. Es geht darum, was Städte und Gemeinden bzw. jeder selbst leisten kann, um das Lebensende würdevoll zu gestalten. Beginn ist um 19 Uhr.
Wie würden Sie die Situation der Palliative Care insgesamt bewerten? Ist sie anerkannt und mit den nötigen finanziellen Ressourcen ausgestattet?
Eychmüller In der Schweiz ist Palliative Care trotz politischem Support immer noch ein Revier der Sonntagsreden. Wenn es darum geht, die Leistungen der Palliative Care, unabhängig ob im Spital, in den Pflegeheimen, ambulant oder im Hospiz, kostendeckend zu vergüten, wird es rasch ehrlich: Palliative Care hat wenig oder keinen Wert. Die Schweiz lebt von Hightech- und Biomedizin mit enormen Umsätzen und Industrieinteressen bis zur letzten Lebensstunde. Das prägt auch die Erwartungen der Erkrankten bzw. Schwerkranken. Weniger ist mehr oder gar die Idee des gesellschaftlichen Direktengagements im Sinn von Nachbarschaftshilfe: Solche Gedanken finden immer noch wenig Anklang im Gesundheitswesen oder beim Thema Lebensende.
Wo liegt der Nachholbedarf?
Eychmüller Der Nachholbedarf liegt darin, wie die Bevölkerung selbst die Vorstellung von einem Lebensende in Würde definiert: mit vollen Medizintech-Segeln gegen die Klippe zu knallen oder in einem menschlich hochwertigen, aber medizintechnisch deutlich bescheideneren Vorgehen das Lebensende in Solidarität ins Normalleben zu integrieren.
In Vorarlberg ist Palliative Care schon lange ein Thema. Gibt es einen Austausch?
Eychmüller Bis 2012 war ich Leiter des Palliativzentrums am Kantonsspital St. Gallen. Da hatten wir regelmäßig Kontakt, und etliche Mitarbeiterinnen kamen aus Vorarlberg und engagieren sich zuhause auch heute noch sehr für dieses Thema.
Auch die mobile Palliative Care wird immer wichtiger. Welchen Stellenwert hat sie in der Schweiz?
Eychmüler Es wird hier sehr viel geredet, aber wenig Anreiz geschaffen. Ein häufiges Thema sind die lokalen Netzwerke und die integrierte Versorgung. Es gibt diese auch in der Palliative Care. Sie sind aber sehr abhängig von kantonalen Prioritäten. Während beispielsweise in den westschweizerischen Kantonen und im Tessin mobile Palliativteams klare Leistungsaufträge und auch eine zumindest weitgehende Kostendeckung haben, ist dies in der Deutschschweiz ein Flicken-
teppich.
Es geht bei der Veranstaltung um das Thema „Sorgende Gemeinde“. Wie kann so ein Modell aussehen?
Eychmüller Bei sorgend oder tragend oder wie im Englischen compassionate communities geht es darum klarzustellen, dass das Lebensende ein gesellschaftlich soziales Thema mit einer medizinischen Komponente ist und nicht ein medizinisches Problem mit einer sozialen Komponente. Weltweit ist dies eigentlich eine Normalität, auch deshalb, weil die Ressourcen fehlen, alle Schwerkranken in medizinischen Einrichtungen zu versorgen. Viele Schwerkranke leiden in unseren reichen Industrienationen häufig darunter, dass sie in solche Einrichtungen abgeschoben werden und vor dem körperlichen schon den sozialen Tod sterben.
Worauf gründet die Idee der „sorgenden Gemeinde“?
Eychmüller Die Idee ist, das Lebensende als gemeinschaftliche Aufgabe zu sehen und dies mit viel Nachbarschaftshilfe und Unterstützung (und nicht Ausgrenzung aus eigener Unsicherheit) etwa der Angehörigen. Das führt auch zur Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit, zum Nachdenken, was menschlich wärmt, denn das ist es, was am Lebensende hilft. Da können wir sehr viel lernen, wenn wir uns in der Gemeinde des Themas annehmen und selbst aktiv mithelfen nach dem Motto: Zuerst gebe ich, dann nehme ich, nicht nur wegen des Fachkräftemangels, sondern als sinnstiftendes Bürger-Engagement.
Deshalb veranstalten wir im Oktober 2024 eine große internationale Tagung und ein Stadtfest zum Thema Lebensende in der Gesellschaft, um viele Ideen auszutauschen, wie das Lebensende ähnlich wie der Lebensanfang in unserem Alltag wieder einen wertvollen Platz einnehmen könnte. VN-MM