Der Kirchturm im Wasser
Nachdem die Grenzen zu Italien wieder offen sind, werden viele aus Vorarlberg mit Freude ins Südtirol fahren. Wer sich Zeit nimmt, zieht den Weg über den Reschenpass und den unglaublich schönen Vinschgau vor, besucht vielleicht die großartigen romanischen Kulturstätten am Weg. Etwa in Burgeis das Kloster Marienberg – schönere Engel als in der Krypta von Marienberg habe ich noch nirgends gesehen. Oder das Kirchlein des Hl. Prokulus in Naturns, mit Darstellungen, die zu den ältesten und besten Fresken im deutschsprachigen Raum zählen.
„Auf nichts wurde Rücksicht genommen, nicht auf die Menschen, nicht auf die Toten – lediglich auf den zu erwartenden Gewinn.“
Gleich nach der Grenze, beim Reschensee, bleiben nahezu alle stehen. Denn dort ragt ein alter Kirchturm aus dem Wasser des Stausees, und erinnert daran, dass es noch gar nicht so lange her ist, dass hier ein Dorf für die Gewinnung von Strom unter Wasser gesetzt wurde. Am Parkplatz am Ufer kann man in einem kleinen Museum die Geschichte des Dorfes Graun nachlesen, das einem Energieprojekt, das keine Rücksicht auf Menschen und Umwelt nahm, weichen musste. Vor Kurzem ist im Diogenes Verlag ein Buch erschienen („Ich bleibe hier“), das diese Geschichte ebenso wie jene der Option schildert. Interessanterweise schreibt das kein Südtiroler, sondern ein Italiener, der Mailänder Schriftsteller Marco Balzano – und er erzählt großartig. Die Option war der teuflische Pakt der deutschen und italienischen Diktatoren Adolf Hitler und Benito Mussolini. Er zwang die deutschsprachigen Menschen in Südtirol, sich zwischen ihrer Heimat, in der sie nur noch Bürger zweiter Klasse sein und nicht mehr Deutsch sprechen sollten, und einer Auswanderung ins Deutsche Reich zu entscheiden. Trina, die Heldin des Romans, entschied sich für ihre Heimat, obwohl sie als Lehrerin nicht in ihrem Beruf arbeiten durfte. Doch auch nach Ende des Kriegs und der Diktatur wurde das Leben nicht einfacher.
Sie bleibt auch, als sie ihr Haus aufgeben muss, das einem neuen Stausee am Reschen zum Opfer fallen soll. Die Menschen wurden trotz heftiger Proteste in etwas höhere Regionen umgesiedelt – in graue Häuser und kleine Wohnungen, die nichts mehr mit dem Bauerndorf Graun zu tun haben. Übersiedelt wurde sogar der alte Friedhof, die Toten ausgegraben und in Massengräber etwas höher gelegt. Auf nichts wurde Rücksicht genommen, nicht auf die Menschen, nicht auf die Toten – lediglich auf den zu erwartenden Gewinn. Geblieben ist nur der Turm, der sich heute wie ein mahnender Finger aus den Wassern des Reschenstausees erhebt. Die Fahrt über den Pass ist mit diesem Buch im Gepäck eine andere, eine bessere, weil wissendere geworden.
Walter Fink ist pensionierter Kulturchef des ORF Vorarlberg.
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