Schonungslos und ohne viel Aufsehen

Kultur / 23.04.2021 • 17:01 Uhr
DiveDuncan HannahRowohlt556 Seiten

Dive

Duncan Hannah

Rowohlt

556 Seiten

Eine Entführung wird aus einer besonderen Perspektive erzählt und eine Metropole erscheint in einem wunderbaren Licht.

Romane Wahrscheinlich gibt es nur zwei radikale Veränderungen im Leben. Die eine passiert, wenn man in die Zeit des Sturm und Drang kommt, die andere, wenn die Lebenssäfte abnehmen, sprich: Man wird alt. Die Zeit des persönlichen Heranreifens ist spätestens seit Goethe einer genaueren Betrachtung wert, aber man muss heutzutage präzise schauen, um noch einen Slot zu finden, der nicht schon ausgereizt ist.

Genau geschaut hat Johann Scheerer. Er ist zum einen ein profunder Musikproduzent, zum anderen der Sohn von Jan Philipp Reemtsma, dem bekannten deutschen Sozialphilosophen und Kunstmäzen, der auch als Erbe hoch dotierter Zigarettenfabriken in die Geschichte einging. Wirklich reden von sich machte Scheerers Vater in ganz unbeabsichtigter Weise: Er wurde Ende der 1990er-Jahre Opfer einer Entführung – schlussendlich wurden unzähliger DM-Millionen für die Freilassung bezahlt. Genau von dieser Zeit handelt nun der schon zweite autobiografische Roman, den sein Sohn mit „Unheimlich nah“ hinlegt.

Der freundliche Personenschutz

Zum Inhalt: Sein aus der Entführung befreiter Vater muss wieder ins Leben zurückfinden, während der Sohn Johannes so richtig in der Reifezeit steckt, in der man so ziemlich alles will, nur nicht gehorchen und bewacht werden. Mehr als ärgerlich für Johannes, dass der private Sicherheitsdienst, der die Befreiung des Vaters organsierte, nun auch von der Familie angeheuert wurde, sie auf Schritt und Tritt zu bewachen. Alle Kleinigkeiten, die Johann das Leben bedeuten, können nur unter Beobachtung gemacht werden, der Alltag gestaltet sich mehr als schwierig, von Leichtigkeit keine Spur. Aber es gibt auch lichte Momente. Der Personenschutz besteht aus Männern, die wissen, was in einem pubertierenden Jungen vorgeht und auch gerne mal die Rolle des großen Bruders übernehmen, der mit Rat und Tat zur Seite steht. So bekommt der Adoleszenz-Roman eine unerwartete Ebene. Johann Scheerer, der Sprössling aus dem Hamburger Bürgertum, findet es abwechslungsreich, wenn er auf einen Menschen stößt, den man sonst nur aus dem Kino kennt: Ein Abend beim Schießtraining zum Beispiel hinterlässt durchaus Eindruck.

Fazit: Freiheit ist ein relatives Gut, und Johann Scheerer zeigt den heranwachsenden Mann durchaus modern als fühlende, verunsicherte Person und nicht als hormongesteuertes Wesen.

Die Sonne der 1970er-Jahre

Manchmal bekommt man ein Paket zugeschickt und man lächelt beim Öffnen ziemlich breit. Nein, es ist weder die neueste Frühjahrsmode noch eine Kiste Wein. Es ist ein Buch: „Dive“, mit einem freudigen, farbenfrohen Cover. Nicht ohne Grund: Der Autor beamt den Leser in eine Zeit zurück, in der das Leben eine gewisse Leichtigkeit hatte, die heute nur schwer einzufangen ist. Duncan Hannah, N.Y.-Künstler und Paradiesvogel, schuf mit „Dive“, mit dem Untertitel „Tagebuch der Siebziger“, ein Elaborat aus der Zeit in New York City. Wow.

Allein die Beschreibung des Times Square als Popart-Kunstwerk ist ein richtungsweisender Blickwinkel, der beim Leser zu Nachdenkprozessen führt. Machte damals die Werbung Kunst oder die Kunst Werbung? In der Tat beides. Natürlich ist auch das Who‘s Who der Metropole vertreten, von Candy Darling bis Andy Warhol. Die herausgegebenen Tagebücher reflektieren die Zeit, in der sie entstanden: schonungslos und ohne viel Aufsehen.

Unheimlich nahJohann ScheererPiper331 Seiten

Unheimlich nah

Johann Scheerer

Piper

331 Seiten