Vom Leid der Nachgeborenen

Kultur / 28.05.2021 • 16:53 Uhr
ViktorJudith FantoUrachhaus416 Seite

Viktor

Judith Fanto

Urachhaus

416 Seite

Judith Fanto führt ergreifend durch schmerzhafte Erinnerungen.

Roman Ein niederländischer Roman, der zu großen Teilen im Wien der 1910er- bis 1930er-Jahre spielt und einer jüdischen Familie ein Denkmal setzt? Judith Fanto, 1969 geboren, hat sich auf die Spuren ihrer Familie begeben. „Meine Großmutter wurde an dem Tag geboren, an dem Gustav Mahler starb“, beginnt das Buch, das sie nach ihrem Großonkel „Viktor“ genannt hat. Im Vorjahr ist das Buch in den Niederlanden als bestes Debüt ausgezeichnet worden. Nun liegt die deutsche Übersetzung vor.

„Viktor“ hat zwei große Erzählstränge. Einerseits erweckt dieser Familienroman jene Teile der Familie Rosenbaum zum Leben, über die später in strikter Vermeidung des üblichen Vokabulars für Vertreibung und Vernichtung der europäischen Juden auf Nachfrage mit einem schlichten „Der/die lebt nicht mehr“ gesprochen wurde. Andererseits schildert er die Zerrissenheit der in den Niederlanden der 1990er-Jahre lebenden Ich-Erzählerin Geertje, dem Alter Ego der Autorin, die sich als Mitglied des „dreizehnten Stamms, des Stamms der nichtjüdischen Juden“, in einer Art Wiedergutmachung zum Judentum hinwendet. Die weitgehend areligiös erzogene junge Frau ändert ihren Vornamen in Judith und wird Mitglied der jüdischen Gemeinde von Nimwegen. Die Vorsprache bei dem aus den USA stammenden jungen Rabbiner, dem nachgewiesen werden muss, dass Judiths im Versteck geborene Mutter ihrerseits jüdisch ist, und der ausgerechnet die Israelitische Kultusgemeinde in Wien nicht kennt, schildert Fanto mit grimmigem Humor als große, absurde Szene.

Turbulentes Wien

Nicht nur hier muss man an Eva Menasses Roman „Vienna“ denken, auch das erste Familienessen mit dem gegen Konventionen rebellierenden Freund der Schwester ist hochkomisch. Denn die Familienmitglieder suchen sich ihren eigenen Weg durch schmerzhafte Erinnerungen. Und so folgt man als Leser Schritt für Schritt beiden Wegen. Jener von Viktor, dem geschäftstüchtigen Mann mit großem Herzen, führt durch das turbulente Wien der Zwischenkriegszeit geradewegs hinein in den NS-Terror. Jener von Geertje führt in eine selbst gewählte neue Identität, die von Altlasten geprägt ist und das Schicksal ihrer Familie schultern möchte.