Märchenhaft und einzigartig

Greta und Jannis. Vor acht oder in einhundert Jahren
Sarah Kuratle
Otto Müller
232 Seiten
Solche Liebesszenen hat man schon lange nicht mehr gelesen.
Roman „Greta und Jannis“ heißt der Debütroman von Sarah Kuratle. Zeitweise ist man versucht zu behaupten, er könnte auch „Hänsel und Gretel“ heißen. Nicht nur, weil schon bald von einer alten Hexe die Rede ist, eifrig Lebkuchen gebacken wird und das Geschwisterpaar immer wieder im dunklen Wald spazieren geht. Auch Goldäpfel, Luchssteine und Feuervögel verleihen der im „letzten Dorf im Gebirge“ spielenden Geschichte märchenhaften Charakter. Außergewöhnlich ist die Sprache. Einige Jahre hat die 32-jährige Autorin, die in Bad Ischl geboren wurde und derzeit in Vorarlberg lebt, an ihrer ersten großen Buchveröffentlichung gearbeitet. Schon 2016, als sie den „manuskripte“-Förderpreis der Stadt Graz erhielt, wurde sie von der Jury als „eine neue, tatsächlich einzigartige Stimme der österreichischen Literatur“ gefeiert. Dieses Versprechen hat Kuratle nun tatsächlich eingelöst, denn weniger ihre Liebesgeschichte als die Art, wie diese von ihr erzählt wird, ist bemerkenswert.
Nachspüren von Gefühlen
Die Behutsamkeit, die sie als Autorin an den Tag legt, beweist sich in ihren Versuchen, Zuneigung und körperliche Nähe, das langsame Entwickeln von Leidenschaft bis hin zum Liebesakt selbst, in einem sorgsamen Nachspüren von Gefühlen und Reaktionen Ausdruck zu verliehen. Solche Liebesszenen hat man schon lange nicht mehr gelesen. Auf der anderen Seite riskiert Kuratle immer wieder, sich mit ihrem eigenwilligen, ins Lyrische driftenden Ton allzu sehr ins Gefühlige zu begeben, auf ein Terrain, wo Mensch und Natur zusammenfließen und hinter der nächsten Felszacke das Kitsch-Warnschild auftauchen müsste. Doch sie bremst kurz davor ab.
„Greta und Jannis“ könnte eigentlich zunächst „Greta und Cornelio“ heißen, denn mit dem lädierten Schlosserben und neuen Nachbarn Cornelio trifft Greta zu Beginn im Gebirge ein, wo ihre Großtante Severine im letzten Haus der Talschaft einen Hof betreibt, der offenbar als Zufluchtsstätte für verstoßene Kinder dient. Nach und nach erschließen sich die archaischen Gebräuche: Nur die jeweils Erstgeborenen haben Anspruch auf Glück und Erbe, die anderen müssen schauen, wo sie bleiben. Greta wuchs hier in enger Freundschaft mit dem annähernd gleichaltrigen Nachbarsbuben Jannis auf. Zunächst wie Bruder und Schwester, später als Liebespaar. Zu spät erfährt Greta, dass sie und Jannis tatsächlich Halbbruder und Halbschwester sind.