Gleicher Maßstab für alle
Nimmt man die Ungeheuerlichkeiten, die sich derzeit in Wien um Bundeskanzler Sebastian Kurz und sein türkises Umfeld abspielen, als Maßstab, dann ist natürlich alles andere in dieser Republik „ein zartes Lüfterl“. Noch nie haben wir erlebt, dass ein Bundeskanzler von der Justiz so unter Verdacht gestellt wird, noch nie musste ein Bundeskanzler solche Rechtfertigungen – übrigens seit langer Zeit immer die gleichen, nämlich die Schuld bei den anderen suchend – anwenden, um sich selbst im Amt zu halten. Ob das gelingt, wird sich spätestens bei der Sondersitzung des Nationalrats am kommenden Dienstag entscheiden, in der von den Oppositionsparteien ein Misstrauensantrag gegen Kurz eingebracht werden wird. Das wird dann wohl auch die Nagelprobe für die Grünen sein, die sich zwischen Machterhaltung und Moral entscheiden werden müssen.
„Denn für einen Bundeskanzler müssten doch zumindest gleiche politisch-moralische Maßstäbe gelten wie für eine Leiterin des Kulturservice in Bregenz.“
Wie gesagt, das ist der Sturm, der derzeit über der Nation tobt – aber daneben gibt es doch auch noch die „Lüfterl“, die man darob nicht ganz vergessen sollte. Etwa die ganzen Umtriebe im Bregenzer Kulturservice, wie man die Kulturabteilung inzwischen nennt. Deren Leiterin, Judith Reichart, wurde nach einer Sondersitzung des Stadtrates – mit den Stimmen von ÖVP und Grünen – suspendiert, bis eine Klärung der Vorwürfe erfolgt ist. Bürgermeister Michael Ritsch wollte umgekehrt das Abwarten auf eine mögliche Anklage gegen Reichart, und dann erst das Handeln der politischen Organe. Ritsch reagiert hier anders als die Bundes-SPÖ gegenüber Kurz: Dort genügt schon der Verdacht für eine Rücktrittsforderung. Zur Sache selbst: Die Anschuldigungen gegen Judith Reichart erfolgten aufgrund von Recherchen eines Journalisten, der die Ergebnisse seiner Arbeit der Bregenzer Opposition zur Verfügung gestellt hatte, nachdem er sie in den Medien nicht unterbringen konnte. Die politischen Parteien – Grüne, ÖVP und NEOS – informierten die Öffentlichkeit in einer Pressekonferenz und setzten einen Tag später ihre Mehrheit im Stadtrat für eine Suspendierung von Reichart ein.
Das alles ist folgerichtig und wohl auch politisch konsequent. Allerdings sollten sich ÖVP und Grüne dann auch auf Bundesebene für solche Klarheit einsetzen. Die Bregenzer Stadträtin Veronika Marte ist immerhin auch die Stellvertreterin von Sebastian Kurz in der Bundespartei und die Grünen sind im Bund Koalitionspartner der ÖVP. Das würde dann bedeuten, dass Bundeskanzler Sebastian Kurz bis zur Klärung der Vorfälle sein Mandat als Kanzler niederlegen, nach Bregenzer Vorbild am Beispiel Kulturservice vom Dienst suspendiert werden müsste. Denn für einen Bundeskanzler müssten doch zumindest gleiche politisch-moralische Maßstäbe gelten wie für eine Leiterin des Kulturservice in Bregenz.
Walter Fink ist pensionierter Kulturchef des ORF Vorarlberg.
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