Uns ist das Hemd näher als der Rock

Kultur / 28.06.2022 • 21:18 Uhr

In dem aktuell von Alice Schwarzer initiierten Brief werden Lieferungen schwerer Waffen an die Ukraine abgelehnt und den Ukrainern „aus Sorge um ihr Leben“ ein Ende ihres Widerstandes nahegelegt. Dabei wird insinuiert, dass es die ukrainischen Verteidiger und deren westliche Unterstützer seien, die zur Eskalation des Konfliktes beitragen würden. Infolgedessen wird von kommentatorischen „Mitläufern“ gleich auch großzügig die Schuld umverteilt. So werden potentielle Opfer zu Tätern, indem man den bislang neutralen Staaten Finnland und Schweden vorwirft, mit ihrem Natobeitritt Öl ins Feuer zu gießen.

Ja, wir haben es verstanden: Nicht Putin schüttet täglich mit Raketen, Bomben und Kriegsverbrechen Öl in die von ihm in Brand gesetzte Ukraine, nein, es ist die Ukraine, die ihre Heimat unter großem hohem Blutzoll und heldenmütig (was im Übrigen für Salonpazifisten geradezu ungustiös klingt) gegen den Aggressor verteidigt. Und nun sind es auch die nordischen Staaten Finnland und Schweden, die den friedliebenden, sich durch westlichen Imperialismus bedroht fühlenden russischen Bären bis aufs Blut reizen. Für Hobbyhistoriker von fern und nah ist alles klar: Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs muss als historische Analogie für einen mit Atomwaffen auszutragenden Dritten Weltkrieg herhalten. Waffenlieferungen werden da bestenfalls in homöopathischer Dosierung toleriert.

Historische Erfahrungen wie München 1938, wo die letzte Chance für den Frieden Europas mit nachgiebiger Appeasementpolitik verspielt wurde, anstatt mit militärischer Gewalt Hitlers mörderischen Größenwahn rechtzeitig zu stoppen, bleiben gerne unter der argumentativen Tuchent, taugen sie doch nicht für die Legitimierung der deutschen Weltuntergangsmenetekel.

In der Argumentation von Atomkriegsapologeten wird auch gerne vergessen, dass Atommächte bislang Kriege verloren haben, sei es die USA in Vietnam oder Russland in Afghanistan, ohne dass es zu einem Einsatz von Atombomben kam.

Den Nordländern wird aus sicherer Distanz empfohlen, ihre „jahrzehntelange bewährte Sicherheitsstrategie“ und Neutralität doch nicht einfach wegen ein bisschen Krieg über Bord zu werfen. Eine Beistandsgarantie der EU, die sich ja schon im Jugoslawienkrieg als verlässlicher Friedensbringer und wackere Schutzmacht (man denke an Srebrenica) hervorgetan hat, würde doch allemal ausreichen.

Und der Ukraine wird in klassisch kolonialistischer Besserwisserei und mit pseudomoralisch erigiertem Zeigefinger nahegelegt, doch mehr Rücksicht auf ihre Bevölkerung und auf unsere Befindlichkeiten zu legen. Da darf es doch nicht sein, dass ein Volk auf seinem Selbstbestimmungsrecht beharrt, sich unter Gefährdung von Leib und Leben gegen einen übermächtigen Feind verteidigt und dabei etwaige europäische Kollateralschäden in Kauf zu nehmen bereit ist. Warum zitieren die Kritiker der kämpfenden Ukraine und der sie militärisch unterstützenden Nato nicht einfach die alte deutsche Redewendung: „Uns ist das Hemd näher als der Rock.“ Das wäre vielleicht ehrlicher.

PS: Trotz wüster Drohungen aus dem Kreml will Großbritannien der Ukraine hochmoderne Mehrfachraketenwerfer überlassen. Angelsachsen ticken offenbar anders als Deutsche.

Gerald Matt

gerald.matt@vn.at

Dr. Gerald Matt ist Kulturmanager und unterrichtet an der Universität für Angewandte Kunst in Wien.