Die “Ethnologin ihrer selbst”

Kultur / 06.10.2022 • 18:24 Uhr
Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux gilt als eine der prägendsten Stimmen der französischen Gegenwartsliteratur.REUTERS/Johanna Geron
Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux gilt als eine der prägendsten Stimmen der französischen Gegenwartsliteratur.REUTERS/Johanna Geron

Die französische Autorin Annie Ernaux erhält den Literaturnobelpreis 2022.

Stockholm Die 82-jährige Schriftstellerin wurde am Donnerstag in Stockholm „für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Fesseln der persönlichen Erinnerung aufdeckt“ gewürdigt. Ernaux glaube an die befreiende Kraft des Schreibens, hieß es von der Akademie. Sie schreibe kompromisslos und in klarer, sauberer Sprache. Mit großem Mut und klinischer Schärfe offenbare sie die Qual der Klassenerfahrung und beschreibe unter anderem Scham, Demütigung und Eifersucht.

Kollektive Erfahrungen

Bei Kritikern gilt sie als Meisterin des Autofiktionalen – einer Mischung von Autobiografischem und Fiktion. Ihre Bücher schaffen es regelmäßig auf die Bestsellerlisten. Eines ihrer jüngsten erschienenen Werke trägt den Titel „Das Ereignis“. Das nahezu autobiografische Buch handelt von den fast schon grausamen Versuchen der Autorin abzutreiben, in einer Zeit, in der die Abtreibung noch als unmoralisch und kriminell betrachtet wurde. Verfilmt wurde die Geschichte von Audrey Diwan, die dafür im vergangenen Jahr den Goldenen Löwen des Filmfestivals von Venedig erhielt. Die über 20 Bücher der Schriftstellerin lesen sich wie ein Selbsterkundungsprojekt. Wie sie selbst sagt, versucht sie ihre persönlichen Erinnerungen im kollektiven Gedächtnis zu finden, denn für sie ist ein „Ich“ nicht ohne die anderen und ohne Geschichte denkbar. Und so gehen ihre Geschichten über ihre persönlichen Erlebnisse hinaus; sie betten sich ein in kollektive Erfahrungen, die durch gesellschaftliche Zwänge und Ereignisse die „Ichwerdung“ beschränken.

Wichtige Stimme der Literatur

Ernaux wurde 1940 in Lillebonne in der Normandie geboren und wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. Ihr Vater verdiente den Lebensunterhalt als einfacher Arbeiter. Ihre Kindheit war geprägt vom frühen Tod ihrer älteren Schwester. Nach dem Studium der Neueren Literatur wurde sie Gymnasiallehrern. Im Jahr 1974 erschien ihr erster Roman „Les armoires vides“ (dt. „Die leeren Schränke“). 1984 erschien „La Place“ (dt. „Der Platz“). Der Roman, für den sie den renommierten Renaudot-Preis erhielt, handelt von ihrem Vater und ihrem eigenen sozialen Aufstieg. In „Eine Frau“ beschwört sie die Erinnerungen an ihre Mutter herauf, in „Passion simple“ ihre Liebesbeziehung zu einem verheirateten Mann. Zu ihren erfolgreichsten Büchern gehört „Les années“, „Die Jahre“, aus dem Jahr 2008. Das Werk ist eine Rückschau auf 60 Jahre ihres Lebens, ein Blick auf eine Frau, die sich verändert – zusammen mit der Welt.