Walter Fink

Kommentar

Walter Fink

Halbzeit ist verbraucht

Kultur / 07.10.2022 • 18:14 Uhr

Es war im Sommer 1972, ich war noch ein junger Mensch, der mehr dem Leben als den Problemen des Lebens zugewandt war. Und dennoch erzielte – nicht nur bei mir, sondern bei vielen anderen – ein Buch, das genau die Probleme der Welt ansprach, besondere Aufmerksamkeit. Ich weiß noch, ich lag am Ufer des Bodensees, dieses Buch als Sommerlektüre in der Hand, und konnte mir einfach kaum vorstellen, dass diese Horrorszenarien Wirklichkeit werden könnten. Der Titel des Buches: „Die Grenzen des Wachstums“, eine Studie zur Zukunft der Weltwirtschaft, beauftragt vom Club of Rome. Der Club of Rome war ein loser Zusammenschluss von Wissenschaftlern Ende der sechzigerjahre, deren Erkenntnisse in besagtem Buch gipfelten. Um es kurz zu sagen: Die Verantwortlichen erklärten damals, dass es – bei einem weiterwirtschaften wie bis zum damaligen Zeitpunkt – noch höchstsens hundert Jahre gehen könne, bis die Erde und die Menschheit am Ende sei. Wir waren schockiert, konnten das kaum glauben.

Heute, in der Halbzeit der prophezeiten hundert Jahre, wissen wir, dass der Club of Rome recht hatte, dass sich nichts verbessert hat, sondern sogar noch eine Reihe neuer Probleme dazugekommen sind, die die damaligen Erkenntnisse noch drastischer vor Augen führen. Und so hat der Club of Rome vor Kurzem eine neue Studie – „Earth for All“ – vorgelegt, in der er die Frage stellt, ob sich die Menschheit überhaupt noch retten kann. Ja, meinen die Wissenschaftler, allerdings hängt die Zukunft der Welt vor allem von „fünf außerordentlichen Kehrtwenden“ ab: „Beendigung der Armut; Beseitigung der eklatanten Ungleichheit; Ermächtigung der Frauen; Aufbau eines für Menschen und Ökosysteme gesunden Nahrungsmittelsystems; Übergang zum Einsatz sauberer Energie.“

Das Unglaubliche ist: Die Menschheit weiß das alles seit einem halben Jahrhundert – und es hat sich nichts getan. Woher also sollten wir die Hoffnung nehmen, dass sich nun plötzlich Wirtschaft und Politik der Gefahren bewusst werden und die „fünf außerordentlichen Kehrtwenden“ einleiten werden? Wenn wir uns die heutige Welt anschauen, den Krieg in Europa, aber auch die vielen kleineren, doch nicht weniger tragischen und brutalen Kriegsschauplätze in Afrika oder Asien, die Klimakrise, die Armut in der südlichen Welt, dann zeugt das nicht von der Einsicht, dass wir aus der Geschichte lernen, wie uns das noch in der Schule gesagt wurde. Die Menschen lernen nicht. Der deutsche Dichter Jean Paul hat schon vor mehr als zweihundert Jahren gemeint: „Die Geschichte belehrt fast niemanden als die Gelehrten, die sie lehren, selten die Gewaltigen, welche die Geschichte selber regieren und erzeugen helfen.“

„Das Unglaubliche ist: Die Menschheit weiß das alles seit einem halben Jahrhundert – und es hat sich nichts getan.“

Walter Fink

walter.fink@vn.at

Walter Fink ist pensionierter Kulturchef des ORF Vorarlberg.