Gelandet im Jetzt

Kultur / 29.09.2023 • 18:28 Uhr
Im Stück geht es um unerfüllte Liebe auf der Suche nach „likes“.
Im Stück geht es um unerfüllte Liebe auf der Suche nach „likes“.

Uraufführung von „möwe / retweeted“ im Theater Kosmos.

BREGENZ Anton Tschechows „Die Möwe“ steht nach wie vor recht häufig auf den Spielplänen deutschsprachiger Theater, zuletzt im März 2023 in der Inszenierung von Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne. Sina Heiss, die Regisseurin von „möwe / retweeted“, hat Tschechows Stück adaptiert und in bester Twitter-Manier auf die Bühne gebracht. Sie hat den Klassiker zwar nicht völlig entrümpelt, aber radikal entstaubt.

Ist in Tschechows Stück eine sich anödende Gesellschaft um die Jahrhundertwende auf einer Datscha, die sich mit zynischen Bemerkungen gegenseitig das Leben zur Hölle macht, zu sehen, geht es Heiss um die Suche nach neuen Formen für das Theater und um ihre kritische Haltung gegenüber Social Media. Aber auch bei Heiss geht es um unerfüllte Liebe, neudeutsch gesprochen auf der Suche nach „likes“ und die Fähigkeit, in den „flow“ zu kommen.

Unerfüllte Liebe

Durch die Modernisierung der Sprache wird die Handlung zeitloser, Funkstörungen und Rauschen aus den auf der Bühne stehenden Radiorekordern greifen soundtechnisch „die Thematik der unerfüllten Liebe auf der Frequenzebene auf“; aus Moskau wird London, aus 14 Schauspielern bei Tschechow werden fünf bei Heiss, und während die illustre Gesellschaft bei Tschechow den Blick vom Landhaus auf einen See hat, hat der Zuschauer bei Heiss den Blick auf im Bühnenhintergrund eingespielte tweets, deren Sender ein Mann namens Anton Tschechow (alias toni_check) ist. Hubert Dragaschnig hat den Tweets seine Stimme geliehen. Es sind biografische Notizen, Belanglosigkeiten, in denen Tschechow vor allem über seine eigene Befindlichkeit räsoniert.

Dazu setzt Heiss gekonnt diverse Slapstick-, Gesangs- und Choreographie-Einlagen ein, die das Absurde, das Komische, die zwischenmenschlichen Begegnungen und vor allem die Unmöglichkeit zu lieben betonen. Der Griff in den Schmalztopf der Welthits ist nicht misslungen. Sei es Sinead O’Conners „Nothing compares to you“, Tina Turners „Golden Eye“ aus dem gleichnamigen James-Bond-Film, bei dem sich die Darstellerinnen wie im Vorspann bewegen, „I feel wonderful“ oder „If you leave me now“ von Chicago und zum Abschluss David Bowies Absolute Beginners mit dem kultigen, unumstößlichen „I absolutely love you … the rest can go to hell …“.

Ich bin die Möwe

Sina Heiss gelingt eine wunderbare Parabel, sie lässt ihre Darstellerinnen („Möwen“) abheben, bringt sie in einen Steigflug und plumps, lässt sie abstürzen. Wie sagt Nina: „Ich bin die Möwe, ich war nur ein Sujet für seine kleine Erzählung“, während Mascha schon eingangs resümiert: „Ich bin fucking unglücklich in meinem Leben.“ Seraphine Rastl als Irina ist eine Idealbesetzung, komödiantisches Talent, gewitzt, pointiert, nie übersteigert. Auch Theresa Martini als Mascha überzeugt, wird sie in ihrer Rolle von der verschmähten Liebe zu einer Art Conférencieuse umgepolt, die das Ganze glaubhaft und probat kommentiert. Ylva Maj als Nina, als femme-enfant fast schon überzeichnet, überzeugt vor allem in den Szenen, in denen sie ihren Boris anhimmelt, während Alduin Gazquez als Konstantin und Radu Miodrag Vulpe als Boris neben ihren weiblichen Kolleginnen eher etwas verblassen, aber das liegt auch an den ihnen zugedachten Texten.

Erfrischende Adaption

Wir leben im Zeitalter der # (Hashtags), der Tweets, der Likes, der Re­tweet-Buttons. Fluch und Segen, für die einen kompliziert und nervig, manchmal sogar lebensbedrohlich, für die anderen das neue Evangelium, im wahrsten Sinne des Wortes die frohe Botschaft. Sina Heiss ist mit „möwe / retweeted“ eine erfrischende Adaption einer zeitlosen Geschichte gelungen (nicht nur den Warmduscher Boris könnte man noch etwas kantiger zeichnen), sie hat Tschechows Klassiker genüsslich von diversen Belanglosigkeiten und Banalitäten befreit und schickt uns damit in eine Zukunft, die vor #s, likes und dislikes nur so strotzt. Schöne neue Welt. Viele Likes vom jungen Publikum. THS

Sina Heiss hat Tschechows „Die Möwe“ adaptiert und in Twitter-Manier auf die Bühne gebracht.   Alexandra Serra (2)
Sina Heiss hat Tschechows „Die Möwe“ adaptiert und in Twitter-Manier auf die Bühne gebracht.   Alexandra Serra (2)