Das Unsichtbare sichtbar machen

Kultur / 21.12.2023 • 19:56 Uhr

Meine erste intensive Begegnung mit Kunst erlebte ich in der Unterstufe des Gymnasiums, als mir in Bildnerischer Erziehung der damals blutjunge Künstler Tone Fink so einfach, wie enthusiastisch das Wesen der Kunst erklärte. „Und siehe da“, sagte er, nachdem wir ein Experiment mit Wasserfarbe und Ölkreide auf Papier vollendeten, „und siehe da, es ist ein Wunder geschehen.“ Diese wundersame Wirkung von Kunst, ihrer Aura und Verführungskraft, die einem in ihren Bann zieht und den Alltag vergessen lässt, sollte ich später immer wieder erleben. So verspüre ich noch heute jenen Sturm der Gefühle, die mich beim Besuch jener einzigartigen Ausstellung des begnadeten Kurators Harald Szeemann „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“ Anfang der 80er-Jahre in Zürich erfüllten. Da war diese Faszination für das Potential der Kunst, Perspektiven zu verändern, die Wirklichkeit als Möglichkeit zu sehen, Kunst und Leben, Welt und Utopie zu vereinen, Ja die Welt poetischer, hoffnungsvoller zu machen. So entdeckte ich das magische Blau von Yves Klein. Sein abgrundtiefes, leuchtendes Blau magnetisierte mich, verschluckte meinen Blick, und warf ihn auf mich zurück. Vor seinem Werk erlebte ich mich anders, klarer, beseelter.

In den 90er-Jahren sollte ich Marina Abromovic und ihre Arbeiten kennenlernen. Die Performancekünstlerin schonte mit ihren radikalen Werken weder ihren Körper noch ihre Seele und schon gar nicht ihr Publikum: „Die Aufgabe des Künstlers in einer gestörten Gesellschaft besteht darin, Bewusstsein für das Universum zu schaffen, die richtigen Fragen zu stellen und den Geist zu heben.“

Eine ihrer beeindruckendsten Arbeiten war „The artist is present“, als sie sich im New Yorker MoMA auf einen Stuhl setzte und nichts tat als jenen in die Augen zu blicken, die ihr gegenüber Platz nahmen. 90 Tage , 7 Stunden am Stück, ohne Pause, ohne zu essen, zu trinken, zu sprechen. 750.000 Besucher kamen. Menschen, die den Platz gegenüber der Künstlerin einnahmen, berichteten von einem existentiellen Erlebnis, Gefühlen von Glück, Angst, Trauer und Hoffnung. Viele weinten.

Wenn ich an Tone Finks Wunder denke , kommt mir Weihnachten in den Sinn, die Besuche der Mitternachtsmette, der nächtliche Weg durch die spärlich beleuchteten Straßen, das Knirschen der Schuhe im Schnee, die beißende Kälte im Gesicht und dann die leuchtende Pfarrkirche, die feierliche Messe, die festliche Liturgie, der betörende Weihrauch und das erwartungsvolle Warten auf das Anstimmen des geliebten „Stille Nacht“-Liedes, all das vermittelte mir auch jene Anmutung einer anderen Welt, einer Welt jenseits von Raum und Zeit, eine Welt der Wunder. Wenn Paul Klee das Wesen der Kunst umschrieb mit dem Sichtbarmachen des Unsichtbaren, dann klingt dies auch in meiner Weihnachtserinnerung nach.

So musste ich, als ich das berührende Gedicht von Theodor Storm „Weihnachen“ las, unweigerlich wieder an meine Malversuche am Bregenzer Gymnasium denken:“…. ein frommer Zauber hält mich wieder, anbetend, staunend muss ich stehen, es sinkt auf meine Augenlieder ein goldener Kindertraum hernieder, ich fühl´s, ein Wunder ist geschehen.“

„So verspüre ich noch heute jenen Sturm der Gefühle, die mich beim Besuch jener Ausstellung erfüllten.“

Gerald Matt

gerald.matt@vn.at

Dr. Gerald Matt ist Kulturmanager und unterrichtet an der Universität für Angewandte Kunst in Wien.