Weihnachts-Neurotiker
Ich bin – ich kann es eingestehen, weil es ohnehin fast alle wissen – ein Weihnachtsneurotiker. Mit Beginn der Adventszeit lege ich jegliche Literatur, die nichts mit Weihnachten oder dem Advent zu tun hat, zur Seite und lese ausschließlich einschlägige Geschichten und Gedichte. Gleiches mit der Musik. Die übliche Klassik oder die Oldies müssen den Advent- und Weihnachtsliedern weichen, damit ich mich ihnen im ausführlichen Wannenbad auch mit eigenem begleitendem Gesang hingeben kann. Aller Genuss mit Literatur und Musik, den ich übers Jahr liebe, rückt also während der Einstimmung auf das große Fest zur Seite, um dann, am Tag nach den Feiertagen, wieder zurückgestellt zu werden. So, wie andere den Schmuck vom Weihnachtsbaum wieder in die zuständigen Kisten verräumen, wandern meine vielen Weihnachtsbücher und CDs wieder auf ihren Übersommerungsplatz. In einem Jahr werden sie wieder hervorgeholt.
Aber noch, noch bin ich im literarischen und musikalischen Weihnachtsfieber, vor allem die einschlägigen Gedichte und kurzen Prosastücke machen mir alljährlich viel Freude. Man denke etwa an Gedichte wie Rainer Maria Rilkes „Weihnachten“ mit „Es treibt der Wind im Winterwalde …“ oder Joseph von Eichendorffs Gedicht „Markt und Straßen stehn verlassen …“. Das sind sozusagen Hits, jeder kann da zumindest einige Zeilen mitreden, aber genau das macht ja Weihnachten aus, keine Neuigkeiten, möglichst die althergebrachten Traditionen und Texte. Mit manchen Ausnahmen allerdings, etwa im Weihnachtsgedicht von Urs Widmer: „Es sprach der Ochs zum Es: / wie lieb er trinkt, der Jes. / Auch wir woll bisschen prostern / so bis so geg Ostern. / Die Tier im heilig Stall / griff froh zur Flasche all. / Wed Es noch Ochs warn schüchtern. / Mar, Jes und Jos blieb nüchtern. / Jes schlief, Mar träumt, doch Jos / schaut auf sein Frau ziem bos. / Der Es sagt: Jos, übs Jahr / hast du vergess wies war. / Dann weihnacht es schon wieder / und du sing Weihnachslieder.“ Vielleicht auch Erich Kästner mit „Morgen, Kinder, wird’s nichts geben! / Nur wer hat, kriegt noch geschenkt …“ oder Kurt Tucholsky mit seiner „Großstadt-Weihnacht“, die mit den Zeilen endet: „Mein Gott, sie mimen eben Weihnachtsfrieden … Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug.“
„Denn auch die Liebe und Freude, das geheimnisvolle Ding, das wir ‚Glück‘ nennen, ist nicht da und nicht dort, sondern nur inwendig in uns.“
Immer aber, wenn man über Weihnachtsliteratur schreibt, sollte man Hermann Hesse mit dem Schlussabsatz seiner „Weihnacht. Dezember 1927“ nicht vergessen – er trifft den Kern der Sache: „Zündet euren Kindern die Weihnachtsbäume an! Lasset sie Weihnachtslieder singen! Aber betrügt euch selber nicht, seid nicht immer und immer wieder zufrieden mit diesem ärmlichen, sentimentalen, schäbigen Gefühl, mit dem ihr eure Feste alle feiert. Verlangt mehr von euch! Denn auch die Liebe und Freude, das geheimnisvolle Ding, das wir ‚Glück‘ nennen, ist nicht da und nicht dort, sondern nur inwendig in uns.“ Eigentlich sollte man das jede Weihnacht öffentlich vorlesen.
Walter Fink ist pensionierter Kulturchef des ORF Vorarlberg.
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