Warmer Weihnachtsnachzügler mit Nostalgiefaktor

“The Holdovers”: Der Film über die Schönheit des Menschseins mit Paul Giamatti gilt als einer der Oscar-Favoriten.
Komödie, Drama Mit “Sideways” feierte Alexander Payne vor fast 20 Jahren seinen größten Erfolg, für den er mit dem Oscar ausgezeichnet wurde. Vielleicht ist Paul Giamatti sein Ass im Ärmel. Der spielt in “The Holdovers” einen seltsam riechenden Menschenfeind, der an Weihnachten mit einem aufsässigen Schüler und einer trauernden Köchin festsitzt. Ein Film wie eine warme Decke an einem kalten Wintertag.

Die Geschichte seiner neuen Tragikomödie stammt, wie Payne offen zugegeben hat, aus Marcel Pagnols nur wenig bekannten französischen 1935er-Film “Merlusse”, aber der amerikanische Regisseur verpflanzt sie ins Neuengland des Jahres 1970. Der glupschäugige Paul Giamatti spielt Paul Hunham, einen brummigen Geschichtslehrer in einem Internat, wo er die Söhne der Reichen und Mächtigen unterrichtet. Der Schulcampus ist mit Schnee bedeckt. Die Innereien des Internats triefen vor Privilegien. Gefilmt in gedämpften Brauntönen mit einem leicht körnig-verwaschenen Look und Cat Stevens auf dem Soundtrack, fühlt sich “The Holdovers” wie ein verlorener Klassiker an. Die Gedanken wandern zu Peter Weirs “Der Club der toten Dichter” (1989), aber mit Robin Williams’ bejahendem John Keating hat Giamattis Figur – zumindest eingangs – nichts gemein.

Paul Hunham kann seine Verachtung gegenüber der heranwachsenden Elite Amerikas, die er offen (und herrlich) als “vulgäre kleine Philister” bezeichnet, nicht verbergen. Wenn ein Schüler wegen einer schlechten Note protestiert: “Sir, ich kann in diesem Fach nicht durchfallen!”, antwortet der Lehrer mit einem grausamen Grinsen: “Oh, verkaufen Sie sich nicht unter Ihrem Wert. Ich bin fest davon überzeugt, dass Sie es können.” Sein Paul ist ein Menschenverächter, ein Grinch, der sich, wie wir nach und nach begreifen, selbst mehr hasst als alle anderen. Und weil er übermäßig schwitzt, nach Fisch riecht und schielt, haben ihm seine Schüler den nur wenig schmeichelhaften Spitznamen “Glasaugenbarsch” gegeben.
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Es ist kein Zufall, dass die Figur, die Giamatti spielt, seinen Vornamen trägt: Alexander Payne stellte sich den 56-jährigen Schauspieler von Anfang an in der Rolle vor und bat den Fernsehautor David Hemingson (“How I Met Your Mother”), die Figur mit Blick auf ihn zu schreiben. Launische, liebenswerte Loser mit hängenden Schultern sind Giamattis Spezialität. Er hat schließlich vor fast 20 Jahren den mürrischen Weinkenner Miles in Paynes preisgekrönter Komödie “Sideways” (2004) gespielt. Für beide, Giamatti und Payne, ist es eine gelungene Rückkehr zu glorreichen Wurzeln.

Weil bald Weihnachten ist, wird Mr. Hunham dazu verdonnert, über die Feiertage die sogenannten “Holdovers” zu betreuen, eine Handvoll Burschen, die nicht nach Hause können – die Strafe dafür, dass er den Sohn eines Senators hat durchfallen lassen. Aber als die übrigen Schüler durch einen glücklichen Zufall mit einem Helikopter zum Skifahren abgeholt werden, bleibt nur der aufbrausende Angus (talentierter Newcomer Dominic Sessa) zurück, den seine Mutter nicht im Urlaub dabei haben will. Zu den beiden gesellt sich Mary, die afroamerikanische Leiterin der Schulkantine, wunderbar gespielt von Da’Vine Joy Randolph aus “Dolemite Is My Name”. Es ist Marys erstes Weihnachten, seitdem ihr Sohn in Vietnam starb. Alle drei trauern um den Verlust von etwas, sei es ein geliebter Mensch oder ein Leben, das unerfüllt geblieben ist.
Das mag alles wahnsinnig schmalzig klingen. Ein Film, in dem sich drei verlorene Seelen finden, kann in seiner Empathie fast radikal wirken, und Payne schlittert gerade noch am Kitsch vorbei. Natürlich kokettiert er hier mit der Idee einer Ersatzfamilie, aber mit Filmen wie “The Descendants”, “Nebraska” und “About Schmidt” hat er die geplatzten Träume und ungelebten Leben verlorener Männer immer mit einem ausgesprochen menschlichen Auge und einem scharfen Sinn für Humor untersucht. Sein neuer Film ist da keine Ausnahme. Liebenswertes, tragikomisches Retrokino mit hohem Wohlfühlfaktor.
The HOldovers
USA 2023
133 min
Regie: Alexander Payne
Mit: Paul Giamatti, Da’Vine Joy Randolph, Dominic Sessa, Carrie Preston, Brady Hepner
Start: 25. Jänner