Noch ist Europa nicht verloren 

Kultur / 07.11.2024 • 12:00 Uhr
Noch ist Europa nicht verloren 

Neulich konnte ich in meiner Fernsehsendung „Matt spricht mit“, in der ich mit interessanten Persönlichkeiten über ihr Leben und Werk plaudere, Adam Krzemiński einen der renommiertesten polnischen Journalisten und Publizisten begrüßen. Krzemiński spricht perfekt Deutsch und gilt in Polen als einer der herausragenden Kenner der polnischen und europäischen Geschichte. Seit 1973 ist er Redakteur der polnischen Tageszeitung Polityka, schreibt für die Zeit und ist oftmaliger Gast in der ARD.

Wir trafen uns am Tag nach der Eröffnung des neuen Museums Moderner Kunst, ein weißer monolithhafter Quader, der neben dem stalinistischen Kulturpalast eine prominente Lage im Herzen Warschaus einnimmt. Das Museum und die rings um den Kulturpalast pilzartig anwachsenden Wolkenkratzer sind glitzernde Zeugen für Europas seit 1989 erfolgreichsten Volkswirtschaft. So stieg das Pro-Kopf-Einkommen Polens seit 2004 um nahezu das Dreifache, mehr als in jedem anderen EU-Land. “Europa ist”, wie Krzemiński ausführte, “für die Polen zu einem Korrektiv geworden, zur Kontrollinstanz und zu einer pädagogischen Anstalt. Es ist ein Lackmuspapier und Katalysator nationaler Debatten und innenpolitischer Auseinandersetzungen. Und zugleich wünschten sie sich auch, dass in der EU der Nationalstaat stärker zur Geltung komme. Eine Quadratur des Kreises, die für Europa nicht untypisch ist.”

Polen hat entgegen westlicher Kritik mehr als jedes andere Land Flüchtlinge aufgenommen.

Gerald Matt

Wurden der autoritär-populistischen Pis Regierung Rechtsstaatsverletzungen und Flüchtlingsfeindlichkeit vorgeworfen wurden, so erhält das Land unter dem Pro-Europäer Tusk nicht nur neuen wirtschaftlichen Schub, sondern scheint auch politisch zu Europas Avantgarde zu werden. Polen hat entgegen westlicher Kritik mehr als jedes andere Land Flüchtlinge aufgenommen. So fanden mehr als 1,2 Millionen Ukrainer, vor allem Frauen und Kinder, Schutz in Polen. Durch kulturelle Affinität der Migration konnten sowohl Integrationsprobleme als auch terroristische Bedrohungen vermieden werden. Krzemiński sieht in der anhaltenden Polenkritik insbesondere linker Kreise auch Nachwehen eines aus der Zeit des Kalten Krieges stammenden „westlichen Selbsthass und der Entwertung der Errungenschaften der freiheitlichen Demokratie in der Weichzeichnung des Kommunismus“, den so wie er sagt “wir heute auch gegenüber dem Islam beobachten können – nicht zuletzt aufgrund seines Antikapitalismus und Antiamerikanismus.”

Der Vorbehalt vieler westlicher Intellektueller gegenüber den ostmitteleuropäischen Dissidenten gründete nicht zuletzt darin, dass sie ja nur für sogenannte “bürgerliche Freiheiten” kämpften. Mit der einstweiligen, von der EU auch akzeptierten teilweisen Aussetzung des Asylrechts antwortet Donald Tusk nun entschieden auf die Versuche Russland und Belorussland durch gezielt gesteuerte Flüchtlingsbewegungen Europa weiter zu destabilisieren. Ebenso teilt Polen nicht zuletzt aufgrund seiner leidvollen Geschichte und der jahrzehntelangen Unterdrückung durch die Sowjetunion weder die Sympathien der europäischen Rechten für Putins Regime noch die Appeasementpolitik westlicher Linkspopulisten gegenüber Russland, sondern stellt unter Minister Sikorsky Polens EU-Vorsitz unter das Motto Sicherheit und Wehrhaftigkeit. Das Museum Moderner Kunst der amerikanischen Architekten steht in seiner schlichten Größe und pragmatischer Klarheit einen Kontrapunkt zum pompösen stalinistischen Kulturpalast und seinem machtrunkenen Prunk und setzt ein beeindruckendes Zeichen für eine selbstbewusste weltoffene Demokratie. Wie heißt es in der polnischen Hymne: “Noch ist Polen nicht verloren..”. Wenn man auf Europa blickt, müsste es wohl lauten: “Noch ist Europa nicht verloren.”

Dr. Gerald Matt ist Kulturmanager und unterrichtet an der Universität für Angewandte Kunst in Wien.