Gesellschaftliche und persönliche Zerreißproben

Die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz mit ihrem neuesten Roman “Auflösungen.”
Bregenz Vor kurzem stellte Marlene Streeruwitz im Theater Kosmos ihren neuen Roman „Auflösungen” vor – ein vielschichtiges, bedrängendes und zugleich schmerzlich luzides Werk, das erneut unter Beweis stellt, wie präzise und unnachgiebig diese Autorin die Gegenwart seziert. Der Roman folgt Nina Wagner, einer Lyrikerin Mitte fünfzig, die für ein Gastsemester an eine New Yorker Universität wechselt – in der Hoffnung, Distanz zu gewinnen. Doch was wie ein Tapetenwechsel beginnt, offenbart sich bald als emotionale Zerreißprobe. Nina wird Opfer einer Gewalttat, kämpft mit der Entfremdung zu ihrer Tochter, mit Liebeskummer, mit Einsamkeit – und mit einem zunehmend bedrohlichen Weltzustand, der ihr feminines Selbstverständnis bis in die Grundfeste erschüttert.
„Auflösungen.“ ist ein doppeldeutig gewählter Titel, der ebenso auf das brüchig gewordene Gewebe eines individuellen Lebens verweist wie auf gesellschaftliche Prozesse der Desintegration. Der Roman beginnt mit einer Szene, die sich tief ins Gedächtnis einprägt: Ninas Ankunft in den USA, das Anstehen vor der Homeland Security und das Wegsehen der Wartenden gegenüber einer zusammengebrochenen Frau sind ein programmatisches Bild für die latente Kälte und das Übersehen und Übertreten weiblicher Körper und Biografien, das den gesamten Roman durchzieht.
Streeruwitz verwebt das Innenleben ihrer Protagonistin mit der äußeren Weltlage und lässt politische Zustände auf die intimsten Lebenssphären durchschlagen. Nina, die alleinerziehende Künstlerin, wird zum Sinnbild einer Frauengeneration, die sich mit einer alt-neuen Art der Marginalisierung konfrontiert sieht. Sie hat sich für ein Leben in der Kunst entschieden und trägt nun, wie so viele, die ökonomischen und emotionalen Lasten allein. Während ihr Exmann bereits von seiner neuen Lebensgefährtin umsorgt wird, ringt sie mit Schuldgefühlen gegenüber ihrer Tochter, die ihr das prekäre Aufwachsen nicht verziehen hat.
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Besonders eindringlich ist die Darstellung des gescheiterten Liebesversuchs mit dem Anwalt Leon, der Nina nach einer Nacht ghostet – eine Szene, die in ihrer Kälte und Alltäglichkeit schockiert. Und doch gelingt es Streeruwitz auch in solchen Momenten, eine scharfe, elegante und schwebende Sprache zu finden, die ohne Pathos auskommt und dennoch tiefer trifft als viele laute Worte.
Ein zweiter Erzählstrang führt zurück nach Wien, wo sich das Zuhause ebenfalls auflöst. Die Tochter möchte sich um ihren Vater kümmern – doch sie weiß nicht, wo sie ihn finden kann. In diesem Abschnitt des Romans sind Annäherungen an die reale Figur Christian Pilnacek zu entdecken. Die Mutter kann nur noch zusehen und ertragen. „Du hast mir die falsche Geschichte erzählt”, sagt Franzi zur Mutter. Fake News auf familiärer Ebene. Liebe bedeutet in diesem Roman, auszuhalten, dass man nicht mehr retten kann.
„Auflösungen.“ ist ein Roman über die Bedrohung von Frauen, ihre Unsichtbarmachung und ihr Verstummen – und zugleich eine kluge Reflexion über Sprache, Macht und das Schreiben selbst. Der zweite Teil, in dem sich aus der Analyse das gelebte Leben formt, wird zu einer zarten Feier der Freundschaft, des Überlebens und der Solidarität.
Streeruwitz’ Roman ist kein Trostbuch, aber ein aufrichtiges. Und darin liegt seine Schönheit.