Meisterwerk aus Klang, Bewegung und Licht

Kultur / 24.07.2025 • 13:35 Uhr
Borrowed Light - Tero Saarinen
Borrowed Light ist in seiner Klarheit, Ernsthaftigkeit und Schönheit atemberaubend und zeitlos.Justus Hirvi

Sakral, sinnlich, seismografisch: Tero Saarinens Tanz über das Menschsein.

Bregenz Mit der Tanzproduktion “Borrowed Light” brachte die Tero Saarinen Company in Kooperation mit der Boston Camerata eines der eindrucksvollsten Werke des zeitgenössischen Tanzes auf die Werkstattbühne der Bregenzer Festspiele. Das Stück ist ein Erlebnis von stiller Kraft, asketischer Schönheit und überwältigender Emotionalität. Was der finnische Choreograf Tero Saarinen gemeinsam mit seinen langjährigen künstlerischen Weggefährten, dem Lichtkünstler Mikki Kunttu sowie den Sängerinnen und Sängern der Boston Camerata geschaffen hat, ist mehr als eine bloße Aufführung. Es ist ein getanztes Ritual, das, uraufgeführt im Jahr 2004, auch 21 Jahre und 50.000 Zuschauerinnen und Zuschauer später noch immer unter die Haut geht.

Borrowed Light - Tero Saarinen
Tero Saarinen und die Boston Camerata zeigten ein Ritual aus Licht und Bewegung.Justus Hirvi

Bereits der Beginn ist von eindringlicher Schlichtheit: Im Halbdunkel bewegt sich eine einzelne Tänzerin durch einen schmalen Lichtkorridor. Sie stampft, klatscht und schwingt ihre Arme, als würde sie etwas beschwören. Aus der Stille entsteht Klang, aus der Einsamkeit Gemeinschaft. Allmählich treten sieben weitere Tänzerinnen und Tänzer sowie acht Sängerinnen und Sänger aus dem Schatten hervor, als würde sich eine unsichtbare Ordnung formieren, gespeist aus der Tiefe der Geschichte und der Kraft des Kollektivs.

Borrowed Light - Tero Saarinen
“Borrowed Light” von Tero Saarinen. Justus Hirvi

Saarinens Werk ist von der spirituellen Welt der Shaker inspiriert – einer radikalen religiösen Bewegung, die im 18. und 19. Jahrhundert in den USA blühte und für ihre strengen, aber zugleich rhythmisch-expressiven Tänze bekannt war. Doch „Borrowed Light” ist kein historisches Abbild dieser Kultur, sondern eine künstlerische Annäherung an ihre innersten Prinzipien: Reinheit, Hingabe, Demut und der Wunsch nach einem besseren, gemeinschaftlichen Leben. In dieser Bewegung liegt keine Nostalgie, sondern existenzielle Dringlichkeit. Choreografisch setzt Saarinen auf eine fließende, kreisende und sich verdichtende Sprache.

Borrowed Light - Tero Saarinen
“Borrowed Light” von Tero Saarinen. Justus Hirvi

Die Bewegungen sind klar strukturiert, aber nie mechanisch. Die Körper der Tänzer wirken, als würden sie von innen heraus bewegt: Die Arme zeichnen Kreise, die Oberkörper schwingen und die Schritte sind groß, geerdet und kraftvoll. Klatschen und Stampfen setzen rhythmische Akzente, doch der Fokus bleibt stets auf der organischen Einheit von Klang und Bewegung. Besonders berührend ist die vollkommene Gleichwertigkeit von Tanz und Gesang. Die Sänger sind keine Begleitenden, sondern integraler Bestandteil des Geschehens. Sie bewegen sich, stehen und wirken in vollkommener choreografischer Harmonie mit den Tänzern.

Borrowed Light - Tero Saarinen
“Borrowed Light” von Tero Saarinen. Justus Hirvi

Musikalisch getragen wird „Borrowed Light“ von traditionellen Shaker-Liedern, die von der Boston Camerata unter der Leitung der Sopranistin Anne Azéma mit makelloser Klarheit und archaischer Schönheit gesungen werden. Ihre Stimmen füllen den Raum mit einer spirituellen Präsenz, die nicht sentimental wirkt, sondern ernst, aufrichtig und tief. Es ist diese Verbindung von körperlicher und vokaler Energie, die das Stück so einzigartig macht – sie erzeugt einen kraftvollen Resonanzraum.

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Ein weiterer Hauptakteur ist das Licht. Mikki Kunttus Lichtgestaltung ist von der Shaker-Praxis des „geliehenen Lichts“ inspiriert: Fenster, die Licht in dunkle Räume tragen. Doch was Kunttu schafft, geht weit darüber hinaus: Licht wird zum Seismograf innerer Zustände, es evoziert Morgenlicht, Zwielicht, nächtliche Dunkelheit, Feierstimmung und Trauer zugleich. Immer wieder taucht das Geschehen in Schatten ab, um plötzlich in gleißender Helligkeit zu erstrahlen – wie ein Bild für die inneren Wechselspiele von Glauben und Zweifel, Einsamkeit und Gemeinschaft, Leben und Tod.

Borrowed Light - Tero Saarinen
“Borrowed Light” von Tero Saarinen. Justus Hirvi

Nach 70 Minuten verlässt man den Werkraum nicht einfach, sondern kehrt aus einer anderen Wirklichkeit zurück – einem Ort jenseits von Worten, an dem das gemeinsame Menschsein in seiner stillen Größe aufscheint. „Borrowed Light“ ist eine Meditation über Zugehörigkeit und das Licht, das wir einander leihen. Es ist ein Meisterwerk von choreografischer und poetischer Intensität. Dass Tero Saarinen zu den bedeutendsten Choreografen Europas zählt, wird an diesem Abend erneut überdeutlich. Mit “Borrowed Light” hat er ein Werk geschaffen, das berührt, fordert und heilt – in seiner Klarheit, Ernsthaftigkeit und Schönheit ist es schlicht atemberaubend und zeitlos.