Kirill Petrenko mit Mahlers 9. als krönender Abschluss

Die Berliner Philharmoniker beendeten die diesjährige Saison der Salzburger Festspiele.
Salzburg Mahler arbeitete im Sommer 1909 im Südtiroler Toblach an der Partitur seiner neunten, seiner letzten Symphonie. Er war ein Mann am Abgrund: von Krankheit gezeichnet, durch den Tod der Tochter erschüttert, entwurzelt aus seiner Wiener Position und in den Fragen der eigenen Endlichkeit gefangen. So entstand ein Werk, das heute als Vermächtnis gilt, als klingender Abschied von der Welt, voller Schmerz, Ironie und Trost. Genau diese Vielschichtigkeit brachten Petrenko und sein Orchester an diesem Abend zum Leuchten.
Das Andante comodo eröffnete mit einem schweren Puls, der wie ein Herzschlag stockte, sich erholte und wieder zu taumeln begann. Petrenko ließ die Berliner Philharmoniker in langen Bögen atmen, ohne je die fragile Textur zu überfrachten. Aus der dunkel grundierten Einleitung erhob sich eine Musik von zarter Schönheit, nur um im nächsten Moment in einem katastrophischen Zusammenbruch zu zerschellen. Petrenko bewahrte dabei stets die Übersicht und ließ jede Schicht hörbar werden, als wollte er den existenziellen Ernst Mahlers in kristalliner Klarheit abbilden.
Im zweiten Satz, dem Ländler, setzte er auf die groteske Verzerrung des Volkstümlichen: holprige Rhythmen, scharf akzentuierte Holzbläser, ein Tanz, der ins Schwanken geriet wie auf unsicherem Grund. Während sich andere Dirigenten mit ironischem Spiel begnügen, entblößte Petrenko die Abgründigkeit, die hinter dieser Karikatur steckt. Der heitere Gestus wurde zur Maske, hinter der sich Unruhe und Verfall verbargen.

Die Rondo-Burleske, der dritte Satz, geriet zu einem wütenden Fanal. Hier wirbelte das Orchester mit kontrapunktischer Schärfe durch die Partitur, getrieben von einer fiebrigen Energie, die kaum zu bändigen schien. Petrenko spannte die Linien präzise und hielt die Kontrolle, ohne den entfesselten Charakter dieser Musik zu glätten. Es war, als würde Mahler den heraufziehenden Taumel des 20. Jahrhunderts vorausahnen – die Berliner Philharmoniker ließen dies mit messerscharfer Präzision und zugleich mit rasender Vehemenz hörbar werden.
Und dann das Adagio, dieses unendliche Ausatmen. Petrenko fand hier zu einer Langsamkeit, die niemals in Erstarrung verfiel, sondern den Klang in weiten, atmenden Bögen entfaltete, bis er sich nach und nach in Auflösung verwandelte. Die Streicher spielten mit einer Wärme, die berührte, und doch mit jener fast überirdischen Disziplin, die jedes Detail klar hervortreten ließ. Schicht um Schicht lösten sich die Phrasen, bis nur noch ein Hauch von Klang übrig blieb – kaum mehr hörbar und doch von größter Intensität. Nur wenige Orchester auf der Welt vermögen es, den Violinen solch zarte, hauchdünne Töne zu entlocken, die zugleich so leise, so präzise und so unverrückbar klar klingen wie an diesem Abend die Berliner Philharmoniker. Das Publikum verharrte in atemloser Spannung, als die letzten Töne im Nichts vergingen – kein dramatischer Schlusspunkt, sondern ein Hinübergleiten in eine andere Sphäre. Es war ein Moment von jener seltenen Intensität, die den Konzertsaal verwandelt: in einen Raum der Stille, der nicht leer, sondern erfüllt ist von größtem Ausdruck und tiefster Wahrhaftigkeit.
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Dass Petrenko diese Sinfonie in Salzburg dirigierte, hatte auch biografische Resonanzen. Er kam im Alter von 18 Jahren nach Vorarlberg, studierte am Landeskonservatorium Klavier, knüpfte erste künstlerische Verbindungen und kehrte später im Rahmen des Mahler-Zyklus “9 × 9” zurück, als er mit dem Symphonieorchester Vorarlberg alle neun Symphonien aufführte. Diese Wurzeln verbinden ihn bis heute mit der Region und schimmern auch in seiner Mahler-Interpretation durch: die Verbindung von analytischer Präzision und innigster Hingabe sowie die Bereitschaft, sich vorbehaltlos in den existenziellen Gehalt der Musik hineinzubegeben.
Mit den Berliner Philharmonikern hat Petrenko eine Partnerschaft begründet, die auf kompromissloser Genauigkeit basiert. Er formt den Klang, bis jede Nuance stimmt, und doch bleibt bei aller Strenge eine seelische Wärme spürbar, die die Zuhörerinnen und Zuhörer unmittelbar erreicht.
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An diesem Abend in Salzburg wurde deutlich, warum er als einer der bedeutendsten Dirigenten unserer Zeit gilt: Er diente der Musik, ohne sich in den Vordergrund zu stellen, und brachte zugleich seine ganze künstlerische Persönlichkeit ein.