Im Wartesaal der Welt

Kultur / 08.10.2025 • 13:46 Uhr
Im Wartesaal der Welt
Zwischen Wahrheit und Täuschung: Isabella Campestrini als Marie und Luzian Hirzel als Seidler. anja köhler

Anna Seghers Drama über Flucht, Identität und Liebe am Vorarlberger Landestheater.

Bregenz Die Bühnenadaption von Anna Seghers’ Roman „Transit” durch Reto Finger ist ein intensives Drama über Flucht, Identität und Liebe in Zeiten der Verfolgung. Die Inszenierung von Stephanie Gräve, die erstmals selbst am Landestheater Regie führt, überzeugt durch starke darstellerische Leistungen und eine durchdachte Ästhetik. Sie wird jedoch durch fragwürdige musikalische Entscheidungen eingeschränkt.

Im Wartesaal der Welt
Marseille als Wartesaal der Welt: Stephanie Gräve verwandelt den Bühnenraum in ein Labyrinth aus Hoffnung, Stillstand und Schatten.Anja Köhler

Im Zentrum steht der ehemalige KZ-Häftling Seidler, der in einem zerbombten Paris der deutschen Besatzung entkommt. Auf seiner Flucht gerät er in den Besitz des Koffers des Schriftstellers Weidel, der sich das Leben genommen hat, bevor er ausreisen konnte. Darin befinden sich Manuskripte, Briefe und Ausreisevisa – eine fremde Identität, die zum Schlüssel für sein Überleben werden könnte. Seidler nimmt Weidels Namen an – nicht aus Berechnung, sondern aus einem stillen Überlebensinstinkt heraus. Mit dem Koffer, aber ohne Ziel, erreicht er Marseille, die letzte offene Stadt Europas, das Tor zur Freiheit und zugleich ein Labyrinth aus Wartesälen, Formularen und Hoffnungen.

Im Wartesaal der Welt
Josepha Yen als Clown: eine fragile Figur zwischen Leichtigkeit und Schmerz, die dem Abend poetische Zwischentöne verleiht. anja köhler

In den Cafés der Flüchtlinge, zwischen Konsulaten, Passierscheinen und der Trägheit der Bürokratie, kreuzen sich die Wege der Gestrandeten – Menschen, die auf Schiffe warten, die niemals ablegen werden. Seidler, gefangen zwischen zwei Identitäten, verliert zusehends den Halt. Seine Begegnung mit Marie, der Witwe des Schriftstellers, gibt der Geschichte eine schmerzhafte Ironie: Sie glaubt, ihr Mann lebe noch, und in Seidler erkennt sie nur den Freund des Verstorbenen. Zwischen beiden entsteht eine Beziehung, die weniger eine Liebesgeschichte ist als ein verzweifeltes Festhalten an einem Bild von Nähe inmitten des Verschwindens.

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Anja Köhler

Gräve betont in ihrer Regie die Schwebe dieser Existenz. Sie zeigt Seidler als einen Menschen, der nicht mehr weiß, wer er ist, und macht ihn so zum exemplarischen Vertreter der entwurzelten Menschen des 20. Jahrhunderts. Luisa Costales Pérez-Encisos und Stephanie Gräves Bühne verwandelt sich in einen offenen, verschiebbaren Raum, der mehrere Orte zugleich abbildet. Sarah Misturas Videoprojektionen legen eine zweite Ebene darüber, während Tom Barcals Licht das Geschehen präzise modelliert: grelles Warten, fahle Nacht, plötzliche Nähe. Auch die Kostüme, die zwischen Zeitbezug und Abstraktion oszillieren, tragen zur klaren Formensprache bei.

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anja koehler

Das Ensemble agiert mit durchweg großer Intensität. Luzian Hirzel verkörpert Seidler mit stiller Verzweiflung. Er ist in jedem Moment zwischen Überlebensdrang und moralischem Zweifel hin- und hergerissen. Isabella Campestrini gestaltet Marie als Frau, die sich an eine längst verlorene Hoffnung klammert. Rolf Mautz glänzt in mehreren Rollen – Patronne, Kapellmeister, Achselroth – und bringt Witz, Härte und Eleganz in die Szenen. Josepha Yen ist als Clown eine berührende Erscheinung und bringt mit ihrer schönen, ausdrucksstarken Stimme Leichtigkeit in die Dunkelheit des Abends. Nurettin Kalfa und David Kopp ergänzen das Ensemble mit präziser Präsenz.

Im Wartesaal der Welt
anja koehler

Musikalisch begleitet wird die Inszenierung von Marcello Girardelli, Martin Grabher und Oliver Rath, deren Klangflächen Unruhe und Melancholie erzeugen. Ein Wermutstropfen ist jedoch die Integration von Rocksongs in die Inszenierung. Sie wirken deplatziert, reißen das Publikum aus der Handlung und erfüllen keinen erkennbaren dramaturgischen Zweck. Die Entscheidung Gräves, auf populäre Musik zu setzen, bleibt rätselhaft, da die Kraft der Worte und die schauspielerischen Leistungen allein ausreichen, um Emotionen zu transportieren. Die Schauspieler sind zwar darstellerisch ausgezeichnet, aber keine Sänger, was die musikalischen Einlagen zusätzlich entbehrlich macht. Es wäre ein trauriges Zeichen, wenn selbst die Intendantin eines Schauspielhauses darauf vertraute, dass Musik stärker berührt als das gesprochene Wort und damit den stillen Glauben an die Macht der Schauspielkunst preisgäbe, der das Theater im Kern ausmacht.

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Anja Köhler

Trotz dieses Fehlgriffs gelingt mit „Transit“ ein eindringlicher Theaterabend. Die Inszenierung erzählt vom Menschen im Ausnahmezustand, von der Zerbrechlichkeit der Identität und von der Sehnsucht nach einem Ort, der mehr ist als ein Eintrag im Pass.