Wir waren unser Fünf

Kultur / 19.12.2025 • 10:49 Uhr
Wir waren unser Fünf

VN-Kommentar von Walter Fink.

Der Advent war mir schon immer eine liebe, eine teure Zeit. Ich liebe die Kerzen, das Gebäck, die Gedanken, die da kommen können, Adventkalender mit Gedichten. Gerade Geschichten und Gedichte begleiten mich seit meiner Jugend, meine Mutter hatte besondere Lieblinge, Theodor Storm etwa, dann Joseph von Eichendorff oder Rainer Maria Rilke. Worte wie „Ich fühl’s, ein Wunder ist geschehn“, oder „Sterne hoch die Kreise schlingen“ sowie „… und wächst entgegen der einen Nacht der Herrlichkeit“ klingen mir noch im Ohr, erfreuen mich über die ganze Adventzeit, wenn ich wieder in den Büchern lese.

Manchmal überhöht sich der Advent noch selbst, dann etwa, wenn mir – wie in diesem Jahr – eine Enkeltochter, die vierte bereits, geboren wurde. Kurz vor dem ersten Adventsonntag kam sie zur Welt, nun wächst sie zu einem richtigen „Christkindle“ heran. Das ist das größte Glück, da reihen sich selbst die großen Dichter und die schönsten Worte hinten an. Ein Kind, mit allem, was zu einem Menschen gehört: Hände, Finger, Füße, Zehen – alles halt im Kleinformat – und ein Gesicht so lieblich, dass man weinen möchte. Ein Kind, ein Wunder, so unglaublich wie es alle Eltern und Großeltern für sich sehen.

Der Advent bringt nach der biblischen Geschichte den Anfang, das „advenio“, ankommen. Aber ich musste auch erfahren, dass er das Ende, das absolute Ende bringen kann. Es war am 23. Dezember vor 67 Jahren, als unser Großvater in Bezau im damals geradezu biblischen Alter von 92 Jahren starb. Ich habe ihn geliebt, er war ein wunderbarer Großvater, machte mit mir Spaziergänge durchs Dorf, erzählte, kehrte in Wirtschaften ein und ich bekam ein „Kracherle“, eine Limonade. Ich war ein Kind, war sehr traurig, aber ich konnte andererseits nicht verstehen, warum deshalb Weihnachten nicht wie sonst war.

Ziemlich genau dreißig Jahre später, im Advent 1988, musste unser Vater gehen. Auch er verehrt von uns, geliebt – Trauer blieb bei uns und unserer Mutter und vertrieb das Christkind. Am 19. Dezember wurde mein Vater zu Grabe getragen, und nun, 37 Jahre später, an genau gleichem Tag, verabschiedeten wir unseren Bruder Diether mit einem Requiem. Wir hatten viel Zeit, ihn zu begleiten und uns letztlich von ihm zu verabschieden. Er hatte ein gutes, selbstbestimmtes Leben, er durfte in aller Ruhe gehen.

Aber unser Kreis ist beschädigt, er hat einen Riss. Wir waren unser Fünf – fünf Geschwister über eine sehr lange Zeit. Alle schon fortgeschrittenen Alters, zwischen 80 und 87 Jahren. Ungeachtet dessen trafen wir uns alljährlich mehrmals, mindestens einmal in Bizau in der „Taube“ mit Familien, dann nur wir fünf an ausgemachtem Ort, zuletzt im Mai in Heidelberg. Wir hatten Gespräche, auch Dispute, ebenso Singen, Essen und Trinken. Wir liebten das Leben, das gemeinsame. Das gibt es nun nicht mehr, nie mehr. Wir sind nun unser Vier, aber wenn wir zusammenkommen werden, dann wird er mit dabei sein, in unseren Gedanken, in unseren Gesprächen. Und dann werden wir wieder unser Fünf sein. Zumindest für uns.