Europa 2035 – Vom Regelwerk zur Bedeutungslosigkeit?

Europa steht an einem Scheideweg. Die Europäische Union verliert seit Jahren an globaler Relevanz – ökonomisch, demografisch, technologisch und politisch. Während Asien wächst und die USA ihre Führungsrolle behaupten, stagniert die EU in Strukturen, Prozessen und Selbstbeschäftigung. Ihr Anteil an der Weltbevölkerung sinkt bis 2030 auf unter 5 %, das globale BIP-Gewicht von heute rund 14 % auf etwa 10 % bis 2035. Die Kaufkraft schmilzt im Vergleich zu dynamischen Märkten wie Indien, Indonesien oder Brasilien. Europa altert, konsumiert, aber produziert keine neuen Visionen.
Der Union fehlt eine gemeinsame Strategie: Was soll Europa 2030 oder 2035 sein? Eine Wertegemeinschaft? Ein Binnenmarkt? Oder ein geopolitischer Akteur? Heute ist sie nichts davon wirklich. 27 Mitgliedstaaten, 24 Amtssprachen, keine gemeinsame Wirtschafts-, Sicherheits- oder Kapitalmarktpolitik. Kein visionärer Führungsanspruch. Keine europäische Identität. In internationalen Krisen – ob Nahost, Ukraine oder Afrika – bleibt Europa Zuschauer statt Gestalter. Regeln, Verbote und Richtlinien ersetzen keine Ideen.
Prozesse sind keine Kultur, Bürokratie kein Fortschritt. Ein starkes Europa muss sich neu definieren: als Einheit von Technologie, Innovation und Marktdynamik – verbunden mit den Rohstoffen und Märkten Russlands sowie den Handelswegen und Zugangsräumen der Türkei. Keine Vollmitgliedschaft, sondern eine strategische Verflechtung, die Stärke durch Ergänzung schafft: Europa als Technologiezentrum, Russland als Ressourcenpartner, die Türkei als Brücke in den Nahen Osten und Zentralasien.
Nur so entsteht eine eigenständige europäische Kraft, die im globalen Wettbewerb mit den USA, China oder Indien bestehen kann. Mein neuerlicher Aufenthalt an einer Spitzenuniversität in den USA hat mir Europas Schwäche schmerzhaft gezeigt: Unter 180 globalen Unternehmerinnen waren gerade einmal 14 Europäer – und die Hälfte davon Russen, Ukrainer und Türken. Keine gemeinsame Sprache, kein gemeinsames Bewusstsein, kein “Wir”. Während Inder, Amerikaner oder Lateinamerikaner als Einheit auftreten, bleibt Europa fragmentiert, vorsichtig, defensiv.
Es ist Zeit für einen Aufbruch. Nicht neue Richtlinien, sondern ein neuer Geist. Nicht Angst vor dem rechten Rand, sondern Mut zur Mitte. Nicht Verteidigung, sondern Gestaltung. Europa 2035 braucht Visionäre, die wieder an eine gemeinsame Zukunft glauben. Sonst wird der Kontinent, der einst Kultur, Wissenschaft und Technik prägte, zur Zuschauertribüne der Weltgeschichte.