“Es war, als ob man mir ein Stück meines Herzens herausgerissen hätte”

Menschen / 13.03.2024 • 14:22 Uhr
jürgen ghesla
Heute kann Jürgen Ghesla wieder lachen. “Ich bin ein glücklicher Mensch.”

Jürgen Ghesla (53) verlor seinen 19-jährigen Sohn durch Suizid.

Lauterach Andreas Ghesla starb am 6. Jänner 2019 durch die eigene Hand. Wenn sein Vater Jürgen Ghesla (53) gut fünf Jahre später über den Tod seines Sohnes spricht, kommen ihm unweigerlich die Tränen. Sein Tod kam für Jürgen aus heiterem Himmel. „Ich nahm bei ihm keine Anzeichen wahr, dass er sich das Leben nehmen könnte.“ Sein 19-jähriger Sohn stand kurz vor der Matura. „Andi war ein guter Schüler. Er redete davon, nach München zu gehen und Software-Entwicklung zu studieren.“

Andi, für Martina Kuster
Andreas Ghesla wurde nur 19 Jahre alt.

Andi war das zweite Kind der Gheslas. „Er war ein lustiges, lebensfrohes Kind, das viel gelacht hat.“ Als der Bub in die Pubertät kam, veränderte er sich. „Da begann sein Rückzug. Die meiste Zeit verbrachte er in seinem Zimmer vor dem Computer. Manchmal gelang es mir, ihn herauszulocken und zu einer Rad- oder Klettertour zu bewegen.“ Mit einem Taschentuch trocknet der Vater seine Tränen. Andi hatte ein paar wenige Freunde. „Diese überredeten ihn einmal, mit zu einem Konzert ins Burgenland zu gehen. Von dort schickte er uns über WhatsApp ein Foto von einem Insekt, einer Gottesanbeterin“, zeigt sein Vater auf, wie speziell Andi sein konnte.

andi
Andi mit seinem Vater Jürgen.

Sein Sohn hinterließ keinen Abschiedsbrief, aber eine letzte Botschaft im Smartphone: „Es ist zu hundert Prozent meine Entscheidung. Es ist nicht eure Schuld. Seid nicht traurig, auch wenn es schwerfällt.‘“ Der plötzliche Tod seines Kindes stürzte Jürgen in eine tiefe Krise. „Das erste halbe Jahr nach seinem Tod war düster. Es war, als ob man mir ein Stück meines Herzens herausgerissen hätte. Im April 2019 war ich nahe daran, meinem Sohn nachzufolgen. Ich habe mich bewusst Risiken ausgesetzt. Einmal habe ich nachts bei strömendem Regen ungesichert einen Klettersteig gemacht.“

Jürgen fragte sich, ob es Sinn macht, weiterzumachen. Eine Antwort darauf bekam er beim Blutspenden im Mai 2019. ‘”Die Frau, die mir das Blut abnahm, sprach mich darauf an, dass ich bald Geburtstag habe. Ich antwortete ihr unter Tränen, dass der Geburtstag heuer ausfällt und mein Sohn Andi nie mehr beim Blutspenden dabei sein wird. Daraufhin umarmte sie mich und gab mir einen Kuss auf die Wange.“ Diese mitfühlende Geste berührte Jürgen tief. „Ich dachte mir: ,Vielleicht ist ein Sinn des Lebens, solchen Menschen zu begegnen.’“

jürgen ghesla
Jürgen Ghesla ist gerne mit dem Bike in den Bergen unterwegs.

Der Tod des Sohnes brachte in Jürgens Leben einiges zum Einsturz. Der gebürtige Bregenzer stellte seine Ehe und seinen Beruf infrage. „Meine Frau und ich gingen mit der Situation unterschiedlich um. Wir versuchten beide klarzukommen, schafften es aber nicht füreinander da zu sein.“ Die beiden trennten sich. Auch beruflich war sich der Diplomingenieur nicht mehr sicher, ob die Technik allein für ihn das Richtige ist. Bei ihm kam der Wunsch auf, mit Menschen zu arbeiten. „Ich möchte das, was ich erlebt habe, dazu nutzen, für andere da zu sein.“

jürgen ghesla
Ein Schirm in den Farben des Regenbogens. Der Regenbogen ist ihm ein Zeichen der Hoffnung – nach Regen und Unwettern brechen hellere Zeiten an.

Der Abteilungsleiter reduzierte seine Arbeitszeit bei der Firma „Oertli-Instrumente-AG“ und absolvierte eine Ausbildung zum Lebens- und Sozialberater. Außerdem machte er eine Schulung in systemischer Aufstellungsarbeit und Trauerbegleitung. „Ende März 2023 habe ich das Gewerbe angemeldet.“ Jürgen steht als Berater noch am Anfang, aber was er jetzt schon sagen kann, ist: „Die Arbeit erfüllt mich sehr.“ Auch als Sprecher der Selbsthilfegruppe “Hinterbliebene nach Suizid” beim Lebensraum Bregenz fand er eine neue und erfüllende Aufgabe. „Ich möchte das Thema Suizid aus der Versenkung holen.“

jürgen ghesla
Die Arbeit als Lebens- und Sozialberater erfüllt Jürgen Ghesla.

Andis Tod habe trotz all dem Schmerz, dem Kummer und den Selbstvorwürfen etwas Gutes gehabt, sagt Jürgen. „Die Veränderungen haben mich zu einem glücklicheren Menschen gemacht.“ Aber eine Frage lässt ihn bis heute nicht los: Was hätte man anders machen können? Jürgen bedauert, dass er seinem Sohn nicht zeigen konnte, dass das Leben schön sein kann und dass man glücklich sein darf. „Diesen Vorwurf mache ich mir.“

Menschen in Not können sich an die Telefonseelsorge wenden. Tel. 142.