Vormittags zur Chemo, nachmittags auf den Berg

Ferdinand Roßmann ist 86 Jahre alt und topfit. Er macht jeden Tag eine Wanderung, bei der er 300 Höhenmeter überwindet.
Bludenz Freunde können einen großen Einfluss ausüben. Gäbi Hanser (heute 81), ein ehemaliger Extrembergsteiger, der mehrere 8000er bezwungen hat, brachte seinen Freund Ferdinand Roßmann (86) zum Bergsteigen. Gemeinsam bestiegen sie in der Vergangenheit die höchsten Berge Österreichs und Südtirols. Auch den höchsten Berg der Alpen, den Montblanc, meisterten die beiden zusammen.

Derart hohe Berge kann man nur bezwingen, wenn man klettern kann und die entsprechende Kondition hat. Gäbi und Ferdinand trainierten oft zusammen. „Wir sind insgesamt sicher 800-mal auf den Hohen Fraßen gegangen – bei jedem Wetter und auch im Winter. Wir haben im tiefen Schnee die ersten Spuren gezogen“, erinnert sich Gäbi. Ferdinand, ein gelernter Schlosser, wurde wie sein Freund bergsüchtig. „Sobald ich mir die Bergschuhe schnürte, stieg meine Stimmung.“

Das viele Wandern und Bergsteigen hatte für Ferdinand aber seinen Preis. „Ich musste mich einer beidseitigen Knieprothesenoperation unterziehen.“ Danach gab er aber wieder Gas und meisterte einen Gipfel um den anderen. Erst das Alter bremste ihn ein. Aber Stubenhocker ist Ferdinand trotzdem keiner. Seit sechs Jahren geht der 86-jährige Bludenzer täglich zu Fuß aufs Gasünd und bewältigt damit jeden Tag 300 Höhenmeter. „Im Monat sind das 9000 Höhenmeter, die er überwindet, das ergibt einmal den Everest“, zollt ihm sein Freund Gäbi Anerkennung.
Selbst als Ferdinand vor fünf Jahren an Blasenkrebs erkrankte, ging er seinem täglichen Ritual nach. „Vormittags hatte ich Chemotherapie, nachmittags bin ich mit zwei Stöcken aufs Gasünd marschiert.“ Die Wanderungen bewahrten den Vater eines Sohnes vor Grübeleien. „Die Natur tat mir gut. Ich machte mir keine großen Sorgen und hatte Vertrauen ins Leben.“

Wenn Ferdinand mal zwei Tage zu Hause bleibt, dann fühlt er sich wie ein alter Mann. „Dann fängt es bei mir zu zwicken an.“ Der leidenschaftliche Berggeher schwört auf seinen selbstgemachten Arnikaschnaps. „Damit reibe ich mir die Gelenke ein, auch vorbeugend.“

Wenn er von der Wanderung zurückkommt, greift er als Erstes zum Vorarlberger Schreibkalender und trägt dort ein, wo er war. „Das macht Papa seit 42 Jahren“, plaudert sein Sohn Christian aus dem Nähkästchen. Sein Vater schmunzelt und fügt hinzu: „So kann ich der Nachwelt beweisen, dass ich schon auf vielen Gipfeln war.“ Ferdinand hofft, dass er noch ein paar Jährchen aufs Gasünd gehen kann. „Wenn das nicht mehr geht, dann ist es mit mir vorbei“, glaubt er und blickt andächtig auf die Bergwelt rund um Bludenz.

