Vom Überleben zum Leben

Waltraud Jäger erlebte in ihrer Kindheit und Jugend großes Leid. Sie wurde geschlagen und missbraucht.
Bregenz Waltraud Jäger war kein Wunschkind, im Gegenteil. Noch bevor sie geboren wurde, versuchte ihre Mutter sie loszuwerden. „Sie hat alles getan, damit sie mich verliert. Sie ist zum Beispiel mit dem Fahrrad über tiefe Schlaglöcher gefahren.“ Waltrauds Mutter war mit der Situation überfordert. „Mein Vater trennte sich von ihr, als sie im dritten Monat schwanger war.“ Waltraud wurde geboren und von ihrer Mutter zurückgelassen. „Mama ging nach Linz und ich blieb bei Oma und Opa.“

Bis zum neunten Lebensjahr war Waltraud in der Obhut ihrer Großeltern. Ihr Großvater, ein Trinker, war gewalttätig. „Er hat mich mit allem geschlagen, was er in die Hände bekam. Manchmal sperrte er mich stundenlang in ein Erdloch. Ich konnte nicht raus. Über mir hatte er mehrere Bierkisten gestapelt. Ich kam fast um vor Todesangst.“ Im Rausch kam es auch zu sexuellen Übergriffen auf das ohnmächtige Kind. Die Oma schaute weg – aus Angst vor dem Opa.

Trost fand das kleine Mädchen in der Natur und bei Tieren. Und noch etwas half dem Kind zu überleben: das Tanzen. „Ich habe den ganzen Schmerz weggetanzt.“ Das Mädchen tanzte mit allem, was sich bewegte: mit den Blättern, den Schneeflocken, den Schmetterlingen und den Blumen.
Eine Lehrerin bemerkte, dass mit dem Kind etwas nicht stimmt. Sie informierte seine Mutter. Diese gab das neunjährige Kind daraufhin in ein Internat. Aber dort fühlte es sich gänzlich verlassen. „Es gab keine Katzen und Hasen. Ich durfte auch nicht tanzen.“ Freilich: Manchmal stahl sich das Kind davon und tanzte heimlich auf der Toilette. Als Waltraud einmal ein Wochenende bei ihrer Mama verbrachte, verging sich ein Bekannter der Mutter an dem Kind. „Die Badezimmertür ging auf. Ein nackter Mann stand vor mir. Filmriss!“

Mit 15 unternahm Waltraud ihren ersten Selbstmordversuch, es folgten weitere. „Es waren Hilfeschreie.“ Als ihre Mutter sie in eine Erziehungsanstalt geben wollte, versuchte sie erneut, sich das Leben zu nehmen. „Als man mir den Magen auspumpte, tobte und schrie ich: ,Lasst mich sterben, ich will sterben.‘“ Waltrauds Seele war so gut wie tot.

Irgendwie schaffte sie es aber trotzdem, eine Ausbildung zu machen. Sie wurde Werklehrerin. Das blieb sie aber nicht lange. Waltraud zog in eine Wiener Kommune, wo Drogen, wechselnde Partner, Demos und Gruppendruck den Alltag bestimmten. Durch eine Bekannte schaffte Waltraud nach einem Jahr den Absprung. Eine Fügung wollte es, dass sie Hedwig kennenlernte, die damals Leiterin des Hauses der Begegnung in Innsbruck war. „Sie sah meine Not.“ Durch Hedwig kam Waltraud 1972 nach Vorarlberg. Gemeinsam bauten sie eine Wohngemeinschaft für Mädchen in schwierigen Lebenssituationen auf. Die Arbeit mit den Mädchen gefiel Waltraud. „Ich verstand die Kinder. Ich spürte, wie es ihnen ging.“ Am Arbeitsplatz lernte sie Leo Jäger kennen, der damals Sozialarbeiter beim IfS war und später Kinder- und Jugendanwalt wurde. Das Paar heiratete und bekam drei Kinder.

Aber die Vergangenheit holte sie ein. Die dreifache Mutter entwickelte enorme Ängste und wurde depressiv. „Suizid-Gedanken quälten mich.“ In dieser schweren Zeit fiel ihr eine Bibel in die Hand. Sie schlug sie auf und las den Satz: „Du hast meine Trauer in Tanzen verwandelt.“ Und da war er plötzlich wieder da, ihr Kindheitswunsch. Waltraud wollte immer Tänzerin werden. Nun entschied sie sich gegen den Tod und fürs Leben. Die leidgeprüfte Frau machte ihren Traum wahr und ließ sich zur Tanzpädagogin und -therapeutin ausbilden, parallel dazu ging sie in Therapie. Ein Leib- und Atemtherapeut arbeitete mit ihr. „Es war ein Weg der Gesundung, ein Weg vom Überleben zum Leben.“

Ihr Herz lernte wieder zu weinen. „Vor vielen Jahren hatte ich aufgehört zu weinen, weil ich merkte, dass es nicht hilft.“ Ihr Herz kann heute auch wieder lachen. „Ich bin lebensfroh und empfinde jeden neuen Tag als Geschenk.“ Dass ihr Herz auch wieder tanzen lernte, verdankt sie Dr. Albert Lingg, dem ehemaligen Leiter des Landeskrankenhauses Rankweil. „Er hat mich als Tanztherapeutin angestellt und mir 15 Jahre lang eine berührende Arbeit ermöglicht, in der ich viele Patienten begleiten und dabei meine Potenziale verwirklichen konnte.“

Heute, mit 80, ist Waltraud längst in Pension. Obwohl sie inzwischen Witwe ist und der Schmerz über den Verlust ihres geliebten Mannes noch manchmal hochkommt, geht es ihr gut. „Ich kenne das Wort Langeweile nicht.“ Mit Freude hütet sie ihre kleinen Enkel, trifft gerne ihre zahlreichen Freunde und geht oft in die Natur. Auch der Tanz hat nach wie vor einen Stellenwert in ihrem Leben. Jeden Donnerstag trifft sie sich zum Tanzen mit einer Gruppe im Kindergarten an der Ach.
Waltraud Jäger hat ihre Geschichte in dem Buch “Abseitsherz” niedergeschrieben.