„Im politischen Leben ist Petting unmöglich“

Politik / 28.12.2014 • 21:25 Uhr
Alt-Landeshauptmann Martin Purtscher wirft einen Blick in die Vergangenheit und in die Zukunft.   VN/Stiplovsek
Alt-Landeshauptmann Martin Purtscher wirft einen Blick in die Vergangenheit und in die Zukunft.  VN/Stiplovsek

Alt-Landeshauptmann Martin Purtscher über den Weg zur EU und fiese Franzosen.

THÜRINGEN. „Schauen Sie sich die Zimba an, sie ist das Matterhorn Vorarlbergs.“ Martin Purtscher steht an der großen Fensterfront in seinem Haus in Thüringen. „Schade, dass es heute neblig ist.“ Er dreht sich um und bittet zu Tisch. Der Raum ist in dunklem Holz gehalten, Skulpturen diverser Künstler zieren sowohl Wohnzimmer als auch Garten. Sein größtes Hobby ist aber ein anderes: Bücher. Überall, wo der Besucher hinblickt: Bücher. Eines davon liegt griffbereit auf dem Regal neben dem Holztisch. Gabor Steingarts „Das Ende der Normalität“.

 

PURTSCHER: Das ist ein faszinierendes Buch, sehr zu empfehlen. Es handelt von der rasenden Veränderung, die uns widerfährt. Die Familie als Schicksalsgemeinschaft hat ausgedient, statt zehn echten Freunden hat man 500 auf Facebook. Es hat sich sehr viel verändert.

Österreich ist vor 20 Jahren der EU beigetreten. Was hat sich seit damals verändert?

PURTSCHER: Zweifellos sehr viel. Aber das war ja der Sinn des Ganzen. Es war sogar meine Motivation, von meinem wirklich süßen Beruf als Chef von Jacobs-Suchard in die Politik zu wechseln.

Die EU war Ihre Motivation?

PURTSCHER: Die außenpolitische Linie stand unter dem Motto: Annäherung, aber kein Beitritt. Der damalige Kommissions-Präsident Jacques Delors stellte aber klar: Es gibt nur drinnen oder draußen. Mein erstes Anliegen auf der Landeshauptleutekonferenz 1987 war eine klare Linie des Gremiums. Als wir Helmut Zilk überzeugen konnten, waren schließlich auch die SPÖ-Hauptleute dafür. Am Ende waren wir die erste öffentliche Institution Österreichs, die den Beitritt gefordert hat.

Dann kam das Dreikönigstreffen der ÖVP 1988 in Maria Plain.

PURTSCHER: Genau. Wirtschaftsminister Graf, ein sehr eloquenter Burgenländer, dozierte über die aktuelle Haltung zur EU. Ich habe ihn gefragt, ob Petting im politischen Leben möglich sei. Alois Mock hat sich köstlich amüsiert und bat mich anschließend, den Vorsitz einer Expertenkommission zu übernehmen. Das Ergebnis: Im April 1988 bekannte sich die ÖVP zum Beitritt.

Wie wurde das in Vorarlberg aufgenommen?

PURTSCHER: Zum selben Zeitpunkt, als mich die SPÖ in Vorarlberg attackierte, erklärte mir Bundeskanzler Vranizky, dass er keine Alternativen zum Beitritt sehe. Später hat er seine Partei überzeugt. Nun stand nur noch die Neutralität im Wege.

Alois Mock fand die Lösung?

PURTSCHER: Es war ein Tabubruch. Mock hat die Neutralität auf drei Punkte reduziert: Keiner Militärallianz beitreten, keine fremden Truppen im Land und keine fremden Militärstützpunkte im Land. Die EU hat das akzeptiert.

Die Verhandlungen konnten also beginnen.

PURTSCHER: Ich wurde als Vertreter der Länder nominiert und war beim großen Finale im Februar 1994 in Brüssel dabei. Es war eines der berührendsten Erlebnisse in meinem Leben.

Was ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

PURTSCHER: Alain Lamassoure, der französische Europaminister, zum Beispiel. Er war ein typischer Vertreter der Grande Nation, der uns spüren ließ: Eigentlich wollen wir euch nicht. Gegenüber Mock war sein Auftritt geradezu provokant, auch als sich dessen Krankheit immer mehr abzeichnete.

Inwiefern provokant?

PURTSCHER: Er wollte wissen, wie viele Zweitwohnsitze wir haben. „Wir müssen an unserer Küste eine Million Deutsche erdulden!“ Erdulden! Das hat er wirklich gesagt. Oder beim Transitverkehr: „Nur drei Millionen Lkw am Brenner? Kommen Sie ins Rhonetal, dann wissen Sie, was Verkehr heißt.“ Er war wirklich nervenaufreibend und hat Mock sehr zugesetzt.

Schließlich waren die Verhandlungen erfolgreich. Wie haben Sie die Abstimmung am 12. Juni 1994 erlebt?

PURTSCHER: Interessant war das Verhalten der Freiheitlichen. Jörg Haider hat uns regelrecht verhöhnt: „Wir haben es schon immer gewusst, wir müssen zur EU.“ Als er merkte, dass ein Drittel der Österreicher gegen den Beitritt war, hat er seine Meinung geändert und teils hanebüchen argumentiert. Man denke nur an die berühmten Blattläuse. Am Ende haben zwei Drittel für den Beitritt gestimmt.

Verstehen Sie die Kritik?

PURTSCHER: Es gibt genügend zu kritisieren. Zum Beispiel die Normierungswut. Warum müssen Traktorsitze oder Glühbirnen geregelt werden? Lobbyisten haben in Brüssel viel zu sagen. Und die TTIP-Verhandlungen laufen nicht berauschend. Die Investitionsschutzklausel gehört weg! Am Ende entscheidet aber das EU-Parlament, darauf vertraue ich.

Was wäre passiert, wenn Österreich damals nicht zugestimmt hätte?

PURTSCHER: Spätestens zehn Jahre später wäre der Beitritt erfolgt, aber mit einer bitteren wirtschaftlichen Lektion.

Zur Person

Martin Purtscher

war von 1987 bis 1997 Vorarlberger Landeshauptmann

Geboren: 12. November 1928 in Thüringen

Politische Laufbahn: Ab 1950 im Wirtschaftsbund, ab 1955 Gemeindevertreter in Thüringen, ab 1964 Landtagsabgeordneter, war Landtags-Präsident, von 1987 bis 1997 Landeshauptmann