“Europa kann nicht scheitern”

Bundeskanzler Faymann sieht Deutschland als Schlüssel in der Flüchtlingsfrage.
Lustenau. Die Vorarlberger Nachrichten würdigten am Mittwoch Vorarlbergs Top-100-Unternehmen. Den VN-Wirtschaftspreis überreichte Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ), zuvor sprach er mit den VN über das Rechtsgutachten der Bundesregierung zur Asyl-Obergrenze. Außerdem erklärte er, weshalb es wichtig sei, dass Deutschland ebenfalls einen Richtwert festlegt.
Sehen Sie sich durch das Rechtsgutachten bestätigt?
Faymann: Ja. Wir fühlen uns insofern bestätigt, dass wir das Recht haben, etwas zu tun. Wir können nicht das Flüchtlingsrecht für ganz Europa wahrnehmen. Aber ich habe immer gesagt: Das ist ein Notfallsplan.
Eine Obergrenze ist laut Gutachten aber nicht möglich?
Faymann: Das Gutachten bestätigt uns die Möglichkeit, an der Grenze zu agieren, wenn jemand zum Beispiel aus einem sicheren Drittland wie Italien kommt.
Also müssen Sie sich mit den Nachbarn absprechen?
Faymann: Das ist das Schwierige. Wir müssen noch viele Gespräche führen. Wie binden wir den Nachbarn ein? Wie können wir mit Italien den Brenner so kontrollieren, dass wir für den Fall gerüstet sind, falls plötzlich 10.000 Menschen an der Grenze stehen? Was passiert mit jenen, die kein Recht auf Durchreise haben?
Faktisch bleibt also für Asyl nur mehr die Möglichkeit des Familiennachzugs?
Faymann: Es gibt schon ein paar Gründe mehr. Zum Beispiel, wenn man in dem Land, in das man zurückgeschoben wird, mit Leib und Leben bedroht ist oder unmenschliche Behandlung droht.
Wie sehen Sie Österreichs Position im europäischen Gefüge?
Faymann: Wir nehmen 37.500 Flüchtlinge. Wenn das jedes EU-Land im Verhältnis zur Bevölkerung machen würde, wären das zwei Millionen Flüchtlinge. Selbst wenn wirtschaftliche Belange eingerechnet werden, wären es noch über eine Million.
Das funktioniert aber nicht.
Faymann: Deutschland sagt, sie schaffen mehr als wir. Sie benennen aber keine Grenze. Schon, wenn unser Richtwert auf die Bevölkerungszahl Deutschlands umgelegt wird, wären es fast 400.000. Damit wären wir von einer Million gar nicht so weit entfernt. Aber es muss endlich jeder sagen, was er schafft. Wie Österreich.
Wo sehen Sie die Rolle Deutschlands?
Faymann: Deutschland ist der Schlüssel. Wenn die Deutschen sagen, sie nehmen 400.000 oder mehr, dann stellt sich als nächstes die Frage: Wie sollen diese nach Deutschland kommen? Wenn alle über den Brenner müssen, und wir den Brenner lückenlos kontrollieren müssen, wird das ein wirtschaftlicher Schaden unvorstellbaren Ausmaßes. Deutschland müsste diese Route stoppen.
Wie?
Faymann: Sie müssen sagen: Die irreguläre Einreise über das Transitland Österreich muss ein Ende haben. Es ist ja absurd. Jemand, der mit Schleppern nach Deutschland reist, bekommt Asyl. Jemand, der an der Außengrenze wartet, nicht. Der Optimalfall: Wer illegal oder irregulär einreist, wird an die EU-Außengrenze zurückgebracht. Deuschland sagt, wie viele sie nehmen und holen sie von der Außengrenze.
Ist eine gemeinsame EU-weite Lösung möglich?
Faymann: Ich lese alle 14 Tage, die EU sei gescheitert. Aber Europa kann nicht scheitern, Europa ist die einzige Perspektive. Wenn gemeinsame europäische Politik nicht funktioniert, sind die Nationalstaaten gescheitert. Wenn Europa in einem Punkt nicht funktioniert, kann man zwar einen nationalen Weg gehen. Aber niemand soll glauben, der ist besser. Übrigens, vor zwei Jahren hätte niemand gedacht, dass wir einen europäischen Rat zum Ende des Durchwinkens brauchen.
Damals hätten Sie auch keine Grenzkontrollen gefordert.
Faymann: Die Situation und die Herausforderungen haben sich stark geändert.
Außenminister Sebastian Kurz sagt, er weiß es schon länger.
Faymann: In der Politik gibt es immer Menschen, die immer schon alles gewusst haben (lacht). Der Vizekanzler ist mein Partner, ihn sehe ich jeden Tag beim Ministerrat. Ich weiß, was wir gemeinsam gesagt haben.
Wie bewerten Sie den Zustand der Koalition?
Faymann: Eine Regierung ist entweder zerstritten oder auf dem Kuschelkurs. Es gibt viele Grauzonen. Wir arbeiten gut zusammen, müssen einige Themen aber ausdiskutieren. Die Arbeit, die wir leisten, ist deutlich besser als die Wahrnehmung. Ich verlasse mich auf die Bevölkerung, dass sie uns bei der nächsten Wahl so bewertet, wie es dem Land geht.