Wie Altlandeshauptmann Purtscher die EU-Beitrittsverhandlungen erlebt hat

Martin Purtscher erinnert sich im VN-Interview an turbulente Stunden.
bregenz Vorarlbergs früherer Landeshauptmann Martin Purtscher hat den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union mitverhandelt. Im Interview mit den VN spricht er über diese turbulente Zeit.
Was ist Ihnen aus den Zeiten der Verhandlungen am deutlichsten in Erinnerung geblieben?
Das berührendste Erlebnis meines politischen Lebens war der Abschluss der Finalverhandlungen am 1. März 1994. Es war nach drei Tagen und zwei Nächten durchgehenden Verhandlungen, als der damalige Vorsitzende, der griechische Außenminister Theodoros Pangalos, Österreich als künftiges Mitglied willkommen hieß. Außenminister Alois Mock, der die Hauptlast der Verantwortung zu tragen hatte, hielt eine freie Rede, in der er die Werte Österreichs hervorhob, die es in die Gemeinschaft einbringen konnte. Die österreichische Delegation schämte sich der Tränen nicht. In der Entscheidungsphase gab es keinen Unterschied zwischen den Parteien oder Interessensvertretungen – alle waren einfach Österreicher und haben bis zur Erschöpfung durchgehalten.
Gab es Momente, in denen der Beitritt zur Europäischen Union auf der Kippe stand?
Am Abend des zweiten Tages gab es einen psychologischen Tiefpunkt. Die Schweden hatten die Beitrittsverhandlungen bereits abgeschlossen, kurz danach die Finnen. Die Norweger zogen mit Theaterdonner aus. Und für uns nahte der Endtermin der Verhandlungen am 28. Februar 1994. Mock, für den die oft sehr harten Diskussionen – vor allem mit dem französischen Europaminister Alain Lamassour – eine enorme psychische und physische Herausforderung bedeuteten, war der Erschöpfung nahe. Für die Themen Landwirtschaft, Transitverkehr und Zweitwohnsitze war noch immer keine Lösung in Sicht.
Was passierte dann?
Das Verhandlungsfinale wurde verlängert. Mock intervenierte beim deutschen Kanzler Helmut Kohl, dass Außenminister Klaus Kinkel, der uns sehr unterstützte, weiterhin teilnehmen konnte. Staatssekretärin Brigitte Ederer bewirkte ein Gespräch von Franz Vranitzky mit dem französischen Präsidenten Francois Mitterand. In letzter Minute gab es noch Probleme durch die Forderung der EU auf Schließung einer Zuckerfabrik wegen Überproduktion.
Doch am Ende ging alles gut und Österreich trat der EU bei. Wie haben Sie den 1. Jänner 1995 erlebt?
Für mich persönlich war der Tag der Volksabstimmung über den Beitritt Österreichs am 12. Mai 1994 unvergleichlich emotionaler. Ich hatte etwas Sorge, dass die Zustimmung in Vorarlberg unter dem österreichischen „Ja“ – Durchschnitt liegt. Wir erzielten aber, ebenso wie das gesamte Österreich, eine Zweidrittel-Zustimmung.
Wieso ist Österreich vergleichsweise erst spät beigetreten?
Als unsere Republik den Staatsvertrag aufgrund eines Neutralitätsbeschlusses erhielt, wurde das als unüberbrückbare Hürde für einen Beitritt gesehen. Unter der rot-schwarzen Regierung mit Alois Mock kam es zur Annäherung. Obwohl die negative Wirtschaftsentwicklung für Österreich außerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erkennbar war, war vor allem in der Gewerkschaft und der SPÖ das Wort Bruno Kreiskys nachhaltig wirksam: „Der Beitritt bedeutet Anschluss an Deutschland.“ An der ersten Landeshauptleute-Konferenz 1987 konnte ich gemeinsam mit dem Salzburger Kollegen Wilfried Haslauer einen einstimmigen Beschluss erreichen, diese Doktrin aufzuheben und einen Beitrittsantrag an die EWG zu stellen.
Wie ging es weiter?
Mock bat mich, den Vorsitz in einer „Europa-Kommission“ zu übernehmen, die das Für und Wider eines Beitritts überprüfen sollte. Über 100 Experten kamen zu dem Schluss, dass dieser vorteilhaft wäre. 1988 verkündete die ÖVP ihren Beschluss, einen Beitritt anzustreben. SPÖ-Kanzler Franz Vranitzky besuchte mich daraufhin im Landhaus. Mich überraschte seine Offenheit. Er sagte: „Ich bin überzeugt, dass es keine Alternative zu einem Beitritt gibt, doch ich muss dies meiner Partei in homöopathischen Dosen beibringen.“ Binnen eines Jahres ist ihm das gelungen.
Welche Bedeutung hat die EU für den Frieden?
Die paneuropäische Idee des Österreichers Richard Coudenhove-Calergi konnte zunächst das Reich der Theorie nicht verlassen. Jahrhunderte waren auf dem europäischen Kontinent blutige Kriege geführt worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg mit mehr als 60 Millionen Toten wurde aus dem visionären Denken Realität. Das bedeutet Zusammenarbeit statt Rivalität, Gleichberechtigung statt Vorherrschaft – was nur eine wirtschaftliche Verflechtung möglich macht. Die europäische Staatsform ist nie vollkommen, doch nur ihr verdanken wir Europäer die längste Friedensepoche. Die europäische Gemeinschaft ist eine Friedens-, Werte- und Wohlstandsgemeinschaft. Meine Hoffnung besteht darin, dass sich zukünftige Generationen darüber bewusst sind, dass Wohlstand ohne Frieden wertlos ist.
Du hast einen Tipp für die VN Redaktion? Schicke uns jetzt Hinweise und Bilder an redaktion@vn.at.