Public Health-Experte Martin Sprenger sieht “kommunikativen Supergau”
Darum ortet das Ex-Mitglied der Corona-Task Force eine Strategie der Angst.
graz Dass die Bundesregierung Ende März vor 100.000 Corona-Todesopfern gewarnt wurde, habe zu einer unnötigen Eskalation geführt, sagt Martin Sprenger, Mediziner und ehemaliges Mitglied der Expertenrunde der Bundesregierung. Diese Angst wirke bis heute nach.
Die Infektionszahlen sinken, das normale Leben kehrt schrittweise zurück. Hat Österreich vieles richtig gemacht?
Für die zweite Märzhälfte trifft das sicher zu. Nach der Absage von Großveranstaltungen war die Entscheidung, das gesellschaftliche Leben für zwei Wochen hinunterzufahren, die richtige. Doch am 26. März bestand eigentlich Klarheit darüber, dass diese Schritte den gewünschten Effekt gezeigt haben. Es gab kein Problem in den Krankenhäusern und Intensivstationen, nicht einmal annähernd. Somit waren die Voraussetzungen gegeben, vom sprichwörtlichen Hammer in ein smartes Risikomanagement, den Tanz, überzugehen.
War der Lockdown also zu lang?
Bis 26. März war das vollkommen in Ordnung. Doch danach hätte es keine Verschärfung mehr gebraucht. Man hätte außerdem einen anderen Kommunikationsstil finden müssen. Was bei der Pressekonferenz am 30. März passiert ist, war für mich der kommunikative Supergau. Plötzlich wird ein Papier auf den Tisch gelegt, das niemand aus der Task Force gekannt hat. Darin ist die Rede von zusätzlichen 100.000 Toten. Am Abend gibt der Kanzler noch eine Draufgabe im Fernsehen und sagt, jeder wird jemanden kennen, der an Corona verstorben ist. Das war unnötig. Damit hat man die Angst eskalieren lassen. Sie ist bis heute in den Köpfen der Menschen und lähmt die Wirtschaft und die Krankenversorgung.
Haben Sie deswegen die Task Force verlassen?
Es war sicher einer der Hauptgründe. Ich war schockiert.
Wie hätte die Regierung kommunizieren sollen?
Eine ideale Pressekonferenz vom 30. März hätte aus meiner Sicht so ausgesehen: Die Regierung betont noch einmal den Ernst der Lage, zeigt aber auch auf, was die Modelle tatsächlich aussagen. Dass der Peak, also der Höhepunkt der Infektionen, früher erreicht wird. Dass zu Ostern die Reproduktionszahl unter eins fällt, das Infektionsgeschehen also rasch zurückgeht. Die Regierung hätte dann sagen können: Jetzt müssen wir aus der Deckung heraus und ein smartes Risikomanagement entwickeln. Die Beratungsgremien werden um eine gesamtgesellschaftliche Perspektive erweitert. Nicht nur Virologen, sondern auch Sozialwissenschaftler, Wirtschaftswissenschaftler, Kulturschaffende und andere Gruppen kommen zu Wort.
Und dann?
Die Politik muss immer die Entscheidung treffen. Aber bei einer offenen gesamtgesellschaftlichen Diskussion wäre man von dieser von oben verordneten Strategie weggekommen und hätte zu einer Politik gefunden, welche die Bürger ernst nimmt.
Gibt es Kollateralschäden?
Natürlich. Bis heute trauen sich viele Menschen nicht mehr zum Arzt oder ins Krankenhaus. Da ist viel Schaden passiert. Doch das wird nicht erhoben, da es nicht zur Geschichte passt. Zwei Wochen lang haben wir in Österreich Sachpolitik erlebt. Das Wohl der Gesellschaft stand im Vordergrund. Doch aus irgendeinem Grund hat sich der Kanzler für die Eskalation und eine andere Politik mit neuen Zielen entschlossen.
Aber machen das andere Länder nicht ähnlich? In Deutschland hat Kanzlerin Angela Merkel vor vorschnellen Öffnungen gewarnt.
Genau gleich macht es kein Land und auch die Art und Weise der Kommunikation ist sehr unterschiedlich. Im Vordergrund steht immer die Frage, was will ich wie kommunizieren. In Österreich hat Anfang April eine Inszenierung der Regierungskommunikation begonnen. Die Pressekonferenzen mit Plexiglasscheiben und Gesichtsmasken erinnern an einen Auftritt, an ein Bühnenstück. Brauchen das Regierungen in anderen Ländern auch?
Viele befürchten, dass man mit zu vielen Öffnungen eine zweite Welle riskiert.
Es wird keine zweite Welle geben, solange wir schlau testen. Woher soll sie kommen? Sofern wir nicht beim Risikomanagement versagen, halte ich das für sehr unwahrscheinlich. Da müssten wir schon sehr unverantwortlich handeln, bewusst ein hohes Risiko eingehen. Mit Sicherheit erleben wir aber eine Virensaison im kommenden Winter.
Ist Tourismus ein Risiko?
Null Risiko wird es nicht geben. Ich muss mir in einer Risikoabschätzung vielmehr überlegen: Ist eine Grenzöffnung möglich? Wenn es in Deutschland und in Österreich wenig Infektionsgeschehen gibt, warum nicht? Ich würde aber in- frage stellen, dass Vorarlberg das gleiche Risikomanagement braucht wie andere Bundesländer.
Wäre es eher ratsam, sich mit Bayern und St. Gallen abzustimmen?
Sicher. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Bayern, die Liechtensteiner oder die Schweizer das Infektionsgeschehen weniger ernst nehmen als wir.
In Wien und Niederösterreich ist ein neuer Corona-Cluster aufgetaucht. Besteht Grund zur Beunruhigung?
Solange ein Virus da ist und wir auf ihn testen, werden wir Infektionen finden. Österreich macht das gut. Die Kontaktverfolgung und Isolierung funktioniert, das Cluster kann ziemlich genau abgebildet werden. Das ist unsere neue Strategie. Es gibt keinen Grund zur Hysterie. Bei Geisterfahrern auf der Autobahn brechen wir auch nicht in Panik aus. Wir wissen, dass es dazu kommen kann, wir versuchen alles, damit es nicht passiert. Aber es findet statt und wir haben gelern,t damit zu leben.
Martin Sprenger
Der Public Health-Experte und Allgemeinmediziner Martin Sprenger (56) aus Graz legte Anfang April seine Funktion als ehrenamtliches Mitglied des Expertenstabs in der Corona-Task Force des Gesundheitsministeriums zurück. Seit 2014 ist er Mitglied der Tiroler Gesellschaft für Allgemeinmedizin sowie im European Forum for Primary Care.