Das Schweigen der Lämmer
Ergreift man im erbitterten Streit um die Wiederansiedlung des Wolfes Partei, muss man sich wie bei jedem emotionalen Thema auf Beschimpfungen als Ignorant, Kleingeist oder Populist durch die jeweils andere Seite gefasst machen. Im Sinne der Versachlichung ist deshalb klarzustellen, dass ich kein Wolfexperte bin und von Wildbiologie nicht viel verstehe. Weshalb eine Raubtiergattung, von der es weltweit mehr als 200.00 Exemplare gibt und sich die Rudel in Mitteleuropa in kurzer Zeit verdoppelt haben, zu den besonders schützenswerten gehört, kann ich ebenso wenig kommentieren wie den Sinn der Ansiedlung in einer seit ihrem Verschwinden ganz anders gestalteten, nämlich dicht besiedelten Region. Mir fehlen die Rechtskenntnisse, weshalb man einen domestizierten Hund erschießen darf, wenn er ein Wildtier angreift, während ein wilder Hund zahme Haustiere ohne Folgen massakrieren kann. Als Kind hat mir der Rotkäppchenwolf Furcht eingeflößt und bei der psychoanalytischen Deutung dieses Märchens – in der Psychotherapieausbildung ein wichtiges Thema – ist diese nicht ganz verschwunden. Auch muss ich zugeben, dass mir auf Wanderungen in einsamer Natur und oft außerhalb des großen Netzes die Wölfe nie gefehlt haben. Soweit so genug von meiner Inkompetenz. Zwei Problemkreise stoßen aber selbst einem Wolfslaien auf. Da ist das Leid der Schafe, die einen grauenhaften Tod sterben müssen oder in einer vom Wolf heimgesuchten Herde schwer traumatisiert werden. Ihr Schicksal wird weitgehend tabuisiert, offensichtlich, weil sie als Nutztiere wenig Achtung genießen. Vielleicht auch, weil Schafe bekanntlich vor ihren Schlächtern verstummen, also im übertragenen Sinn des Wortes keine Stimme haben und sich nicht wehren können.
„Müssen wir denn nicht froh sein, dass überhaupt noch jemand die Alpen bewirtschaftet?“
Das zweite No-Go ist das Abschieben der Verantwortung auf unsere Älpler und Hirten, die über keine so starke Lobby verfügen wie die Großbetriebe. Als ob deren Arbeitsbedingungen nicht hart genug wären, wird ihnen jetzt noch die Unmöglichkeit eines wirksamen Schutzes der Weidetiere zugesonnen. Müssen wir denn nicht froh sein, dass überhaupt noch jemand die Alpen bewirtschaftet? Nehmen wir das echte Hirtentum ernst, wenn wir uns damit trösten, dass man mit Geld, sprich mit Ausgleichsprämien, alles richten kann?
Man kann es drehen und wenden wie man will. Freiheit für den Wolf bedeutet Unfreiheit für den unbeschwerten Alpsommer, für das so oft zitierte glückliche Almvieh und für eine friedliche Almlandschaft ohne Einsperren und Zaunnetzwerke.
Univ.-Prof. Prim. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut
und früherer Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene. reinhard.haller@vn.at
Kommentar