Gegen das Tabu: Psyche und Corona
Alle leiden, alle haben ihre Sorgen, alle wollen mit ihren Bedürfnissen wahrgenommen werden. Und viele wähnen sich als die überhörte Gruppe in der Pandemie. Die Corona-Ausnahmesituation legt vieles offen, was dem Leben Sinn und Erfüllung gibt und ja, dazu gehört für viele Jüngere halt auch eine durchtanzte Nacht. Dennoch, bei allem Verständnis für die unterschiedlichen Bedürfnisse, gibt es eine Gruppe, die jetzt noch mehr bewältigen muss: Menschen mit psychischen Problemen.
Sie sind nicht „die anderen“. Nach diversen Studien kann man davon ausgehen, dass jede/jeder Vierte bereits einmal eine depressive Episode erlebt hat, das war schon vor Corona so. Durch die Pandemie hat sich die Situation verschärft, wie jetzt eine groß angelegte Befragung des Gallup-Instituts im Auftrag der Sigmund-Freud-Universität Wien veranschaulicht. Demnach gab es schon vor dem Sommer ernste Probleme in der Bevölkerung. 20 Prozent erklärten, durch die Coronakrise psychisch belastet zu sein. 40 Prozent hatten Zukunftsängste, 27 Prozent sprachen von genereller Ängstlichkeit – Anzeichen für eine Angststörung.
Die Chance in der Krise sehen: Solche Weisheiten halte ich persönlich gar nicht mehr aus. Dennoch gibt es gerade rund um das Offenbarwerden vieler psychischer Nöte Aspekte, die Hoffnung vermitteln. Darauf, das Tabu in dieser Ausnahmesituation endlich aufzubrechen. Viele sprechen nun vielleicht leichter über ihre inneren Nöte, weil die allgemeine Sorge ihnen die Möglichkeit gibt, einzugestehen: Mir geht es gar nicht gut. Möglicherweise wagen sie den ersten Schritt, eine Hotline für Menschen in psychischer Not anzurufen. Oder sich zu Fachleuten zu wagen und sich nicht vor diesem überkommenen Bild zu fürchten: Das ist ja nur für „die Verrückten“.
Trinken statt Therapie
Denn auch wenn der Besuch beim Psychotherapeuten oder der Psychiaterin heute bei vielen Jüngeren kein Stigma mehr darstellt, in den älteren Generationen oder in ländlichen Gebieten ist das Annehmen professioneller Hilfe noch immer unvorstellbar: Lieber schön still vor sich hin leiden und sich selbst therapieren, um zu funktionieren. Also zum Beispiel lieber Alkohol trinken, als ein Therapiegespräch führen. Laut der Gallup-Befragung sagen 14 Prozent, sie würden in der Pandemie mehr trinken.
Wenn man Bandscheiben-Probleme hat, geht man zum Orthopäden; wenn man Seelen-Schmerzen hat, geht man zur Psychotherapeutin.
Da wäre es vernünftiger, eine psychische Erkrankung wie eine körperliche zu sehen: Wenn man Bandscheiben-Probleme hat, geht man zum Orthopäden; wenn man Seelen-Schmerzen hat, geht man zur Psychotherapeutin. Dass die Betroffenen für eine umfassende Versorgung allerdings mehr kassenfinanzierte Therapieplätze bräuchten, auf die man nicht warten muss, wäre gerade in der Pandemie eine immens wichtige gesundheitspolitische Investition.
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