Von Biden lernen
Was können wir in Österreich von Joe Bidens beeindruckender Antrittsrede lernen? Natürlich war die Rede primär an ein zerrissenes Land gerichtet, gespalten durch skrupellose Lügen des Vorgängers. Aber die Rede enthielt Botschaften, über die auch wir nachdenken sollten. Mehrfach hat Biden Worte wie Anstand, Respekt und Würde in den Mund genommen. Fürchterlich langweilige und altmodische Begriffe, ich weiß. Aber wo bleiben Anstand, Respekt und Würde in der derzeitigen politischen Auseinandersetzung? Wenn ein Haufen als „Spaziergänger“ getarnter Demonstranten trotz Masken-Gebot und Abstandsregeln wegen angeblicher Missachtung ihrer Grundrechte die Gesundheit der Mitmenschen gefährdet. Mit Hassparolen übelster Art. Als ob Gesundheit kein Grundrecht wäre?
Mehrfach hat Biden Worte wie Anstand, Respekt und Würde in den Mund genommen.
„Wir können unsere Kräfte bündeln, das Geschrei beenden und die Gemüter beruhigen. Wir müssen die Politik beiseitelassen und uns dieser Pandemie endlich als geeinte Nation stellen“. Passen diese Sätze nicht 1:1 auf Österreich? Wo ist die gemeinsame Vorgangsweise von Regierung und Opposition aus dem vergangenen März? Gewiss, die Regierung hat Fehler gemacht, musste vom Verfassungsgerichtshof mehrfach korrigiert werden, hat die Opposition, die Sozialpartner und die Länder erst in den letzten Wochen eingebunden und oft die nötige Transparenz vermissen lassen. Aber deshalb gleich, wie FPÖ-Clubobmann Kickl, der Regierung „den Krieg erklären“ (!) und von „totalitären Entwicklungen und autoritären Anwandlungen“ reden? Ist die Arbeit der Regierung wirklich „ein einziger Pleiten-, Pech- und Pannen-Bericht“, wie die Neos meinen? Sind wir wirklich „Weltmeister im Negativen“ (SPÖ-Vize-Clubchef Leichtfried)? Biden zu diesem Grundsatz-Problem: „Lasst uns damit beginnen, uns wieder gegenseitig zuzuhören. Politik muss nicht ein wütendes Feuer sein, das alles auf seinem Weg zerstört. Nicht jede Meinungsverschiedenheit muss ein Grund für totalen Krieg sein.“ Barack Obama hat das so bezeichnet: „Wir müssen nicht nur auf Leute hören, denen wir zustimmen, sondern auch auf Leute, denen wir nicht zustimmen.“
Auch bei einem anderen Thema lohnt es sich, Biden zuzuhören: „Ein Schrei nach Überleben kommt vom Planeten selbst. Ein Schrei, der verzweifelter und deutlicher nicht sein kann.“ Es wird auch eine Zeit geben, in der wir uns wieder einem Thema zuwenden können, das in der Pandemie zu kurz kommt. Bei Maßnahmen gegen den Klimawandel ist Österreich kein Weltmeister. Selbst bei einem einfachen Vorschlag wie der geplanten EU-weiten Plastik-Steuer, also einer Abgabe auf nicht recycelte Kunststoffabfälle, kommen gleich Proteste der Wirtschaft. Wird Ministerin Gewessler die geplante ökologische Steuerreform oder die CO2-Bepreisung durchsetzen können oder wird das mit Hinweis auf die Folgen der Pandemie wieder hintangestellt? „Ich werde Fehler machen. Wenn ich sie mache, werde ich sie zugeben“. Nein, der Satz stammt von Biden und nicht von Sebastian Kurz, dem das aber gelegentlich gut anstünde.
Antrittsreden amerikanischer Präsidenten bleiben auch nach Jahrzehnten im Gedächtnis. Man denke nur an John F. Kennedy: „Fragt nicht. Was euer Land für euch tun kann. Fragt, was ihr für euer Land tun könnt“. Unser Land, das sind wir alle. Bei der Impfentscheidung geht es nicht nur um das Wohlergehen des einzelnen Impfgegners, sondern um eine Verpflichtung gegenüber den Mitmenschen. Wo bleibt diese Verpflichtung bei den Impfverweigerern?
Wolfgang Burtscher, Journalist und ehemaliger ORF-Landesdirektor, lebt in Feldkirch.
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