Martin Netzer: “Die Mittelschule ist keine Sackgasse”

Politik / 12.09.2021 • 14:00 Uhr / 10 Minuten Lesezeit
Martin Netzer: "Die Mittelschule ist keine Sackgasse"
„Priorität hat, dass wir tun, was für das Kind das Beste ist. Ich bin mir nicht sicher, ob eine Schulbesuchspflicht dazu führt“, sagt Netzer im VN-Gespräch. APA

Der Generalsekretär im Bildungsministerium, Martin Netzer, sprach mit den VN über die Gemeinsame Schule, die Impfquote bei den Lehrern, einen Selbstbehalt für PCR-Tests, Schulbesuchspflicht und die Schwäche von Privatschulen.

Wien Flexible Lösungen bildeten eine diverse Gesellschaft besser ab, als „wenn wir einen Tunnel bauen“, sagt Martin Netzer, Generalsekretär im Bildungsministerium. „Es darf auch nicht in den Köpfen verankert sein, dass das Gymnasium was Besseres und die Mittelschule eine Sackgasse ist.“ Dass Privatschulen bevorzugt würden, stellt er in Abrede: Vielmehr seien diese bei den schwächeren Standorten überrepräsentiert.

Von einer Schulbesuchspflicht hält Netzer wenig. In manchen Fällen könne es ja auch sinnvoll sein, das Kind aus der Schule zu nehmen. Allerdings würden Maßnahmen nun verschärft. Dass die Lehrer ihre PCR-Tests bald selbst bezahlen müssen, steht im Raum, allerdings nur dann, wenn für alle die Gratis-Tests abgeschafft werden. Von einer Impfpflicht hält Netzer angesichts der bereits hohen Impfquote nichts.

„Wer sich als Lehrer nicht gegen Corona impfen lässt, hat den Job verfehlt“, sagt Gesundheitsexperte Armin Fidler. Teilen Sie die Meinung?

Armin Fidler ist ein sehr profunder Experte, aber diese Aussage halte ich für überspitzt, weil sich die Lehrer bereits überproportional impfen lassen. 82 Prozent der Lehrkräfte sind geimpft, das liegt weit über dem Schnitt der Bevölkerung. Die Impfung ist im Lehrerzimmer bestimmt auch Thema und wird manche Lehrer noch überzeugen.

Ist eine Impfpflicht bei Neueinstellungen noch Thema?

Es ist für uns insofern kein Thema, weil wir mit der hohen Impfquote gut unterwegs sind. Wir sind auch dagegen, dass man sich einzelne Gruppen herauspickt, die noch dazu auf Grund der hohen Immunisierungsrate sogar Vorbild sind. Wir sehen auch keinen Grund, Lehrkräfte zu benachteiligen, weil an den Schulen die 3G-Regel gilt. Für ungeimpfte Lehrer ist klar geregelt, dass sie drei Tests pro Woche machen müssen, einen davon müssen sie sich als PCR-Test selbst organisieren. So erreichen wir, dass wir ein sicheres Schulsystem haben.

Warum können die Lehrer den PCR-Test nicht an der Schule machen?

Wir müssten für die ungeimpften Lehrer eine eigene Logistik aufbauen. Es ist definitiv nicht zumutbar, das aus Steuergeldern zu finanzieren.

Sollte Österreich die Gratistests abschaffen, wäre es ungeimpften Lehrerinnen und Lehrern zumutbar, 50 bis 100 Euro pro Woche für einen PCR-Test selbst zu bezahlen?

Wir werden uns noch ansehen, inwieweit sich der Dienstgeber an den Kosten beteiligen würde, zumal die Lehrerinnen und Lehrer die Möglichkeit hätten, die Kosten zu vermeiden, wenn sie sich impfen lassen. Wir müssen auch aufpassen, dass es nicht zu einer Privilegierung kommt. Wenn jeder den PCR-Test selbst zahlen müsste: Wieso die Lehrer nicht?

Die Zahl der Schulabmeldungen von Kindern ist deutlich höher als in den vergangenen Jahren. Besorgt Sie das?

Ja, das ist eine problematische Entwicklung. Wir setzen daher verschiedene Maßnahmen: verpflichtende Beratungsgespräche, eine Information über den Lernstand schon im Halbjahr sowie eine fixe Zuweisung von Prüfungskommissionen. Auf der anderen Seite müssen wir wieder Vertrauen schaffen und sagen: Wir kommen jetzt schrittweise in den normalen Schulbetrieb zurück. So mühsam wie im vergangenen Jahr wird es nicht mehr.

Warum müssen Eltern nicht begründen, wenn sie ihr Kind von der Schule abmelden?

Es ist verfassungsrechtlich verbrieft, dass Eltern am besten wissen, was ihrem Kind am meisten dient. Mit dem verpflichtenden Beratungsgespräch und mehr Informationen über den Lernfortschritt haben wir aber künftig die Stellschrauben, um festzustellen, ob eine Schulabmeldung tatsächlich im Sinne des Kindeswohls ist.

Man könnte auch in Richtung Schulbesuchspflicht gehen – nach dem Vorbild Deutschlands.

Ich höre immer wieder aus Deutschland, dass Österreich das bessere Modell hat, weil es flexibler reagiert. In manchen Fällen ist es ja auch sinnvoll, das Kind vielleicht für ein halbes Jahr aus der Schule zu nehmen. Es ist also wichtig, in einer diversen Gesellschaft auch diverse Möglichkeiten zu haben. Priorität hat, dass wir tun, was für das Kind das Beste ist. Ich bin mir nicht sicher, ob eine Schulbesuchspflicht dazu führt.

Kann man mit verpflichtenden Beratungsgesprächen tatsächlich sicherstellen, dass das Kindeswohl an erster Stelle steht?

Sicherstellen nicht, aber sensibilisieren. Ich bin überzeugt, dass alle Eltern das Beste für ihr Kind wollen und manche ihr Kind dann doch noch in die Schule geben.

Den Schulen wurden nun zusätzliche Stunden angeboten, um Rückstände, die während des eingeschränkten Schulbetriebs entstanden sind, aufzuholen. In Vorarlberg wurden aber nur 50 bis 60 Prozent davon abgeholt. Eine Begründung für die geringe Quote war der Lehrermangel.

Vorarlberg hat bei der Personalsituation besonders große Herausforderungen. Und zusätzliche Förderstunden bedeuten zusätzliche Überstunden. Das ist das eine. Das andere ist, dass auch in Ländern mit besserer Personalsituation die zusätzlich angebotenen Stunden nicht vollständig abgerufen wurden. Manche Standorte erklärten, dass der Nachholbedarf gar nicht so dramatisch ist.

Was tun Sie gegen den Lehrermangel?

Wir sind gerade dabei, für Vorarlberg entsprechende Modelle zu entwickeln. Ein Thema ist, die Studierenden wieder zurück ins Land zu holen. Das ist für Vorarlberg ohne eigene Universität eine spezielle Herausforderung. Das zweite ist der Quereinstieg, für den es eine neue gesetzliche Grundlage gibt, die ein bisschen Luft schaffen kann. Außerdem werden wir in den nächsten Schuljahren in Vorarlberg in jede Maturaklasse gehen und uns dort als attraktiven Arbeitgeber präsentieren. Da haben wir bisher zu wenig getan. Im Recruiting sind wir vielleicht nicht in der Steinzeit, aber wir sind auch nicht modern.

Es gab einmal die Diskussion, Lehrern pro Woche regulär zwei zusätzliche Wochenstunden zuzumuten. Ist das noch Thema?

Nein.

Welche Zukunft hat die Sommerschule mit Blick auf den Lehrermangel?

Vorarlberg hat sie trotz der angespannten Situation super hinbekommen. Es war eine Punktlandung. Wir gehen davon aus, dass wir die Sommerschule verfestigen können, indem wir sie gesetzlich verankern. Im kommenden Jahr werden wir die lebenden Fremdsprachen dazunehmen. Ganz wichtig ist, dass wir auch genügend Studierende haben, die unterrichten.

Arno Geiger hielt bei der Toni-und-Rosa-Russpreis-Verleihung eine beachtliche Rede für mehr Chancengleichheit und kritisierte das Schulsystem unter anderem mit diesen Worten: „Der Staat benachteiligt seine eigenen Schulen, bevorzugt die privaten und bezahlt auch noch dafür.“ Stimmt diese Analyse?

Nein. Das zeigen auch die Ergebnisse der Bildungsstandards und der Zentralmatura. Privatschulen schneiden nicht unbedingt besser ab. Sie sind sogar bei den Schwächeren eher überrepräsentiert. Zum Beispiel gehören bei den Zentralmaturaergebnissen zu den zehn schlechtesten Schulen in der AHS sechs Privatschulen, das sind 60 Prozent. Insgesamt liegt der Anteil von Privatschulen hingegen bei zehn bis 15 Prozent.

Im öffentlichen Schulsystem werden die Schüler auf Mittelschulen und Gymnasien aufgeteilt. Manche bezeichnen Mittelschulen gar als „Restschulen“. Ist es tatsächlich zeitgemäß, bei den Zehnjährigen so zu unterscheiden?

Wir müssen aus dieser Diskussion rauskommen. Wenn jemand in die Mittelschule geht und danach einen guten Lehrberuf hat, ist das nicht schlechter, holpriger oder die zweite Wahl. Die Fachkräfte gehen uns aus. Daneben haben wir mehr als genug studierte Publizisten. Wir haben sogar zu viele Lehrer in Geschichte oder Geographie. In der Technik fehlt es uns hingegen überall. Vorarlberg hat Gott sei Dank noch das Image, dass die Lehre eine wirkliche Alternative ist und man nicht unbedingt eine Matura braucht.

Ist es dafür tatsächlich notwendig, dass man Schüler in Gymnasium und Mittelschule teilt? Eine gemeinsam Schule schließt ja nicht aus, dass sich Jugendliche für die Lehre entscheiden oder Akademiker werden.

Die Diskussion kann man natürlich so führen. Ich bin aber eher pragmatisch und sage, dass sie vorerst auf Eis gelegt ist. Vorarlberg könnte eine Modellregion einrichten, wenn das Land und die Schulpartner das wollten. Konzentrieren wir uns besser auf die pädagogischen Inhalte. Es darf auch nicht in den Köpfen verankert sein, dass das Gymnasium was Besseres und die Mittelschule eine Sackgasse ist. Man kann danach trotzdem in eine HTL oder HAK wechseln. Es gibt auch Möglichkeiten ohne Bildungs- oder Lebenszeitverlust, sich weiterzuentwickeln. Ich selbst bin in die Hauptschule Schruns gegangen, gelernter Maler und Anstreicher und habe später eine Studienberechtigungsprüfung abgelegt. Unser Schulsystem kann in seiner Diversität unsere Gesellschaft deutlich besser abbilden, als wenn wir einen Tunnel bauen.

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