Erst kommt das Fressen
Das Imperium schlägt zurück. Was haben sie nur alles an Demütigungen geschluckt, die sechs Landeshauptleute der ÖVP. Selbstentmachtung bei der Kandidatenaufstellung im eigenen Bundesland, Blankoscheck für den Jungstar, bedingungslose Unterwerfung. Als bekannt wurde, dass Sebastian Kurz Kirchenvertreter grob beleidigt hat, haben sie geschwiegen. Das überharte Vorgehen beim Flüchtlingslager Moria hat so manchem nicht geschmeckt. Man hat geschwiegen. Aber als öffentlich geworden ist, dass er sie „alte Deppen“ genannt hatte, das war dann zu viel. In einer bizarren Koalition mit Werner Kogler haben sie den gefallenen Jungstar zum Rücktritt gezwungen. „Beiseitetreten“ wurde der Absturz höflich formuliert.
„Es ist Markus Wallner zugute zu halten, dass er als Erster der Parteispitze Bedenken geäußert hat.“
Bis das wahre Ausmaß der Chatprotokolle bei den VP-Landeshauptleuten eingesickert ist, war es ein Prozess auf Raten. Nach dem ersten Schock über die Hausdurchsuchungen in der ÖVP-Zentrale und dem Bekanntwerden der Chats leisteten die Landeshauptleute dem Kanzler noch einhellig den Treueschwur. „Kurz hat uns zweimal einen Wahlerfolg gebracht“, begründete der Tiroler Landeshauptmann Platter die Unterstützung, nachdem er sich zunächst, laut „Profil“, mit der Unterschrift noch geziert hatte. Wie heißt es bei Bert Brecht: „Erst kommt das Fressen (Wahlerfolg), dann die Moral.“ 24 Stunden später hat der wendige Slalomfahrer Platter dann zum Kurz-Rücktritt beigetragen.
Es ist Markus Wallner zugute zu halten, dass er als Erster der Parteispitze Bedenken geäußert hat. Auch wenn er sich später dann etwas davon distanziert hat, in „Vorarlberg live“ auch einen Parteiausschluss von Kurz in den Raum gestellt zu haben. Noch schärfer der steirische Landeshauptmann Schützenhöfer: „Die Härte der Vorwürfe ist unfassbar und grenzwertig.“ Viele in der ÖVP glauben oder hoffen darauf, das Kurz wieder zurückkehrt. Vor allem Kurz und dessen „Prätorianer“ selbst. Die ÖVP-Abgeordneten haben Kurz einstimmig (!) zum Klubobmann gewählt. Manche wohl zähneknirschend wie Karlheinz Kopf, den Kurz als zweiten Nationalratspräsidenten abgesägt hat. Gelten die moralischen Kriterien, die Kurz als Kanzler unmöglich gemacht haben, für den Klubvorsitz nicht? Allen, die noch an eine Wiederauferstehung glauben, hat Schützenhöfer ausgerichtet: Die Gerichtsverfahren, die es abzuwarten gilt, würden mehrere Wahlen überleben. Deshalb halte er die Frage, ob Kurz ins Kanzleramt zurückkehrt, für theoretisch, sagte er der „Kleinen Zeitung“. Dazu steht im Raum, was noch alles an weiteren Chats bekannt wird.
Das Brecht-Zitat gilt auch für die anderen Parteien. Mit etwas Verzögerung schwang sich SPÖ-Obfrau Rendi-Wagner zur Kanzlerkandidatin auf, um mit Kickl eine Anti-Kurz-Koalition zu bilden. Wohl nicht zur Freude von Doskozil. Die alte SPÖ-Doktrin (keine Koalition mit der FPÖ) war plötzlich vergessen, und auch Neos und Grüne fanden einige Stunden lang nichts dabei, Kickl zwecks Mehrheitsfindung zu hofieren.
Erst kommt das Fressen (von Kurz), dann die Moral. Vizekanzler Kogler hat im Moment alle Hände voll zu tun, um in Serieninterviews das grüne Liebäugeln mit Kickl zu verteidigen („Pandemiebekämpfung, Budget und Steuerreform brauchen Mehrheiten“). Wirklich? Pandemiebekämpfung mit Kickl? Da wäre diese Koalition schon nach wenigen Tagen zerbrochen. Wie hätte die grüne Parteibasis auf Kickl reagiert? Die momentane Fortsetzung der Koalition ist alternativlos, wenn wir nicht schon wieder wählen wollen, was eine deutliche Mehrheit ablehnt. Kogler hat recht. Es gibt viel zu tun.
Wolfgang Burtscher, Journalist und ehemaliger ORF-Landesdirektor, lebt in Feldkirch.
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