Julia Ortner

Kommentar

Julia Ortner

Zusammenhalt, ein Fremdwort

Politik / 23.11.2021 • 08:00 Uhr

„I am from Austria“ von Rainhard Fendrich, damit beschallten Wiener Polizeiautos die Stadt zu Beginn des 1. Lockdowns bei ihren täglichen Streifenfahrten um 18 Uhr. Auch für jene von uns, die diese Musikauswahl eher fragwürdig fanden, war es doch ein Moment von Gemeinschaftsgefühl. Nach dem Vorbild Italiens (das damals schon massiv von der Corona-Krise betroffen war) versammelten sich Menschen in ganz Österreich jeden Tag an ihren Fenstern oder auf ihren Balkonen zu Konzerten – musizieren, jodeln, singen, alles war erlaubt. Oder sie klatschten um 18 Uhr gemeinsam für die Helferinnen und Helfer in der Krise, für die Beschäftigten in Gesundheitsberufen, dem Einzelhandel, der Post oder dem öffentlichen Dienst.

Die Heldinnen und Helden der Pandemie in den Krankenhäusern wurden mit Lob überschüttet, den angekündigten Bonus für ihren Kampf an der Seuchen-Front – 500 Euro steuerfrei – bekommen sie erst mit dem kommenden Dezember-Gehalt. Jetzt, zu Beginn des 4. Lockdowns im Land, wäre es für die Bewältigung der Corona-Fälle wichtig, das Gefühl des Zusammenhalts aus dem März 2020 wieder aufleben zu lassen – aber die Realität nach 20 Monaten Pandemie sieht leider anders aus. „Und der Mut ist müde geworden und die Sehnsucht so groß“, dieser zeitlos schöne Satz von Rainer Maria Rilke aus seiner Erzählung „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ beschreibt die allgemeine Stimmung treffend.

Jede, jeder für sich

Die einen müssen wieder ihr Geschäft zusperren und wissen trotz Wirtschaftshilfen nicht, wie es danach für sie weitergeht, die anderen sitzen mit vollen Bezügen im Home-Office. Auf der Straße demonstrieren Impfgegnerinnen und -gegner neben Rechtsextremen gegen die Corona-Maßnahmen, zu Hause ärgern sich Geimpfte, dass sie wegen zu vieler Ungeimpfter auch in den Lockdown müssen. Eltern schicken ihre Kinder trotz sehr hoher Inzidenzen in die Schule, weil sie nicht zu Hause bleiben können, machen sich aber große Sorgen wegen möglicher Infektionen. Menschen, die alleine leben, sind wieder in totaler Isolation, gerade Ältere oder psychisch Erkrankte leiden besonders an der Ausnahmesituation.

Noch mehr Vereinzelung, Individualisierung, Rücksichtslosigkeit. Phänomene der westlichen Wettbewerbsgesellschaften, die Corona noch mehr verschärft hat.

Der Zusammenhalt geht so verloren. Auch wenn man das Bild von der gespaltenen Gesellschaft nicht ständig heraufbeschwören sollte, sind das die Folgen der Pandemie: noch mehr Vereinzelung, Individualisierung, Rücksichtslosigkeit. Phänomene der westlichen Wettbewerbsgesellschaften, die Corona noch mehr verschärft hat. Ob wir dennoch an uns wachsen, das wird man erst erkennen, wenn wir die Pandemie im Griff haben und die Aufräumarbeiten in der Gesellschaft beginnen – ein Wiederaufbau des Gemeinschaftsgefühls wird jedenfalls dringend notwendig sein.