Kommentar: Mit Gefühlsstürmen ist zu rechnen
Ein privater Moment in einer Welt, die keinen Raum mehr für Privatheit lässt, wird zwei Menschen vergangene Woche zum Verhängnis – weil sie in einem kurzen Video zu sehen sind, das sich unter anderem über die Plattform TikTok weltweit verbreitet. Der grauhaarige Mann und die blonde Frau hören in dem Videoclip eng umschlungen dem Konzert der britischen Band Coldplay zu und werden dabei von einer „Kiss-Cam“ gezeigt, die so wie bei vielen US-Veranstaltungen mutmaßliche Paare im Publikum filmt. Doch als dieses Paar sich selbst auf der Leinwand erkennt, verbirgt die Frau ihr Gesicht und der Mann taucht ab, um sich zu verstecken. Coldplay-Sänger Chris Martin ruft: „Entweder haben sie eine Affäre oder sie sind einfach sehr schüchtern“, das Konzertpublikum lacht und johlt. Hahaha, erwischt!
Durch die rasante Verbreitung im Netz werden die zwei bald geoutet. Der Mann ist CEO einer US-Softwarefirma und verheiratet, die Frau seine Personalmanagerin, ebenfalls in einer Beziehung. Beide sind laut der Firma nun ihre Jobs los. Das überrumpelte Paar wird zu Vorlage für unzählige ironische, aber auch für menschenverachtende Memes, die die Social-Media-Plattformen überfluten; irgendwelche Leute verfolgen die beiden und posten auf deren persönlichen Seiten. Das Phänomen des digitalen Prangers ist nicht neu. Es offenbart sich nur heftiger, mitleidloser und von noch größerer Schnelligkeit angetrieben.
Mit Gefühlsstürmen ist leider immer zu rechnen, so wie mit dem Verlust der Mitmenschlichkeit. Aufrufe für mehr Selbstreflexion und gegen Häme sind gutgemeint, kommen allerdings zu spät. Heute geht es vor allem um das klare Benennen der Welt, in der wir längst leben. Die Social-Media-Plattformen sind zu einer „Affekt- und Kulturmaschine“ geworden, wie der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz bereits 2017 festgestellt hat. In der digitalen Welt laufen die Formate laut Reckwitz alle auf einer Ebene, nur wenige Klicks führen die Nutzerinnen und Nutzer „von ihren privaten Urlaubsfotos zu Klassikern der Filmgeschichte, von den Nachrichten ihrer Freunde zum Bericht vom Parteitag, vom Porno zu Shakespeares ‚The Tempest‘ oder Innenansichten der Suiten eines Pariser Nobelhotels“. Hauptsache, man bedient eine Emotion.
Für herkömmliche Medien bedeutet diese Entwicklung eine stetige Gratwanderung: Jene, die die Aufgabe haben, die Welt abzubilden, wie sie ist, können einen von Social Media befeuerten Eklat möglichst sachlich erzählen, um dem Publikum kein Massenphänomen zu verschweigen; alle anderen Medien, deren Produktversprechen keinen Gesamtüberblick vorsieht, können manche „Skandale“ auch einfach auslassen – der nächste Emotionssturm wartet ohnehin schon.
Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und ist Redaktionsleiterin von ORF.at.
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