Wir-Gefühl? Begehrt, aber aus
Der neue Bundeskanzler hat ein Lieblingsmotiv, an das er jetzt gerne appelliert.
„Solidarität zeigt sich auch darin, aufeinander aufzupassen. Wir alle gemeinsam haben es in der Hand, die Freiheit für uns alle zurückzugewinnen. Die Freiheit wird nicht durch parteipolitische Entscheidungen genommen, sondern durch das Virus“, sagt Karl Nehammer bei seiner Auftakt-Rede. Und beim ersten Auftritt im Parlament spricht er von der „Kultur des Miteinanders“, die er nun pflegen wolle.
Es ist die Stunde des „Wir“. Die Appelle an das Wir-Gefühl sind gerade in der Pandemie und politisch wilden Zeiten nachvollziehbar. Einem gefährlichen Virus, das die Welt seit bald zwei Jahren schwer belastet, unsere Gesundheit, gar unser Leben bedroht und uns massiv einschränkt, kann man eben nicht mit den Heldentaten einzelner begegnen. Stellen Sie sich einmal vor, wie sich einzelne Menschen einer riesigen Tsunami-Welle entgegenstellen – ihr Erfolg wäre wohl überschaubar. Die „Ich, Ich, Ich“-Kultur unserer westlichen Wettbewerbsgesellschaften beeindruckt das Corona-Virus nicht, das nur höchst effektiv mit Virus-Angelegenheiten beschäftigt ist: seiner größtmöglichen Verbreitung, in welcher neuen Variante auch immer.
Leben auf der Insel
Das Problem am großen „Wir“ ist allerdings, dass dieses Gefühl schon länger verschüttet ist. Spätmoderne Gesellschaften feiern das Singuläre, nicht das Allgemeine, wie auch der deutsche Kultursoziologe Andreas Reckwitz in seinem grundsätzlichen Werk „Die Gesellschaft der Singularitäten“ feststellt. Individualisierung und Betonung des „Ich“ führen immer mehr zur Vereinzelung im Denken und manchmal auch zur Vereinsamung. Jede, jeder für sich, auf der eigenen Insel. Die Lebensqualität auf der Insel unterscheidet sich allerdings deutlich, je nach Ressourcen und Finanzen.
Die „Ich, Ich, Ich“-Kultur unserer westlichen Wettbewerbsgesellschaften beeindruckt das Corona-Virus nicht.
Mehr Gemeinschaftssinn als Bindemittel der individualisierten Gesellschaft, das ist heute ein schwer umsetzbares Anliegen. Das zeigte sich Anfang des Jahres noch an der Verniedlichung des „Vordrängelns“ in Sachen Corona-Impfung – man sollte diese Praxis als das benennen, was sie war: Die Erschleichung eines Vorteils zum Nachteil anderer, die eine Impfung oft dringender gebraucht hätten. Mittlerweile gibt es leider viel weniger Interessierte als Impfstoff. Der Mangel an Wir-Gefühl offenbart sich nun etwa rund um die Demonstrationen der Impfgegnerinnen und -gegner, die sich in den Massenansammlungen nicht nur selbst gefährden, sondern auch provokativ ohne Maske andere gefährden, zum Beispiel in öffentlichen Verkehrsmitteln.
Eine schlechte Grundlage für alles, das uns in der Pandemie und danach noch erwartet. Wir werden das große „Wir“ auch zum Wiederaufbau dringend brauchen.
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