Charles Ritterband

Kommentar

Charles Ritterband

Abschied von der großen Illusion

Politik / 30.03.2022 • 14:00 Uhr

Der griffige aber irreführende Titel war rasch in aller Munde, obwohl vermutlich nur wenige seinen Artikel im „National Interest“ (1989) und danach sein Buch (1992) wirklich gelesen hatten: „Das Ende der Geschichte“. Francis Fukuyama, der an der berühmten Universität Stanford lehrt, stützte seine aufsehenerregende These auf Hegels Geschichtsphilosophie mit ihrer Utopie von der Aufhebung der weltpolitischen Widersprüche in einer letzten Synthese. Nach dem Fall der Berliner Mauer, der Implosion des Sowjet-Imperiums und damit dem Ende des Kalten Krieges glaubten tatsächlich viele, den Anbruch eines neuen, besseren Zeitalters zu erkennen – einer Welt des wachsenden Wohlstands, der Freiheit und Demokratie.

Das mag anfangs der 90er-Jahre tatsächlich der Fall gewesen sein – verkehrte sich jedoch rasch ins Gegenteil: Statt einem Happy End hat uns die Geschichte weltweit einen Rückfall in Diktatur und Unterdrückung beschert. Der Anteil der Menschen, die das Glück haben, in Demokratien zu leben, fiel bald unter 50 Prozent – inzwischen sind es nur noch 20 Prozent. Hunderte von Millionen haben die für uns so selbstverständliche Möglichkeit eingebüßt, ihre Meinung frei zu äußern und ihre politischen Repräsentanten in unverfälschten Wahlen zu küren. Die Liste der Gewaltherrscher, die ihre Macht mit undemokratischen Methoden oder brutalem Terror festigen, wird immer länger: Assad in Syrien, Lukaschenko in Weißrussland, die Militärjunta in Burma, Xi in China, Putin in Russland. Selbst innerhalb der EU pflegen demokratisch gewählte Regierungschefs wie Victor Orbán mit demokratischen Prinzipien fahrlässigen Umgang. Das trügerische Bild vom „Ende der Geschichte“ hat die westlichen Eliten selbstzufrieden gemacht – und blind für die Gefahren, die der Demokratie drohten. Die USA haben als Weltpolizist abgedankt. Putin, von dem jeder wusste, dass er aus dem KGB kam und dessen Untaten allgemein bekannt waren, wurde hofiert. Als er dann den größten europäischen Krieg seit 1945 vom Zaun brach, herrschte allenthalben Bestürzung und Überraschung.

Hätte man doch nur den russischen Schriftsteller Iwan Turgenjew (1818-1883) gelesen, der eine Romanfigur in „Aufzeichnungen eines Jägers“ mit Worten schilderte, die für Putin maßgeschneidert waren: „Er weiß, dass er lügt, und glaubt selbst an seine Lügen: eine Art von Sinnesrausch und dichterischem Entzücken kommt über ihn – es sind keine einfachen Lügen, keine bloßen Prahlereien mehr, die er von sich gibt. Er ist von sich selbst überzeugt.“ Für Putin ist offenbar schon sein Name Programm – Nomen et Omen: „Wladimir“ bedeutet „Beherrscher des Universums“. Allerdings bedeutet „Mir“ auch „Frieden“. Davon ist wenig zu sehen.