Johannes Huber

Kommentar

Johannes Huber

Größere ÖVP-Krise

Politik / 23.04.2022 • 06:30 Uhr

Der Schaden, der der ÖVP aus all den türkisen Affären entstanden ist, ist kleiner, als er wirkt: Über die Machenschaften von Sebastian Kurz und seinen Leuten konnte man nicht wirklich überrascht sein. „Ich“ bzw. Selbstbezogenheit stand bei ihnen zu sehr im Vordergrund. Auch bei Ankündigungen wurde so dick aufgetragen, dass man skeptisch sein musste. Zumal sich bald herausstellte, dass im System nicht gespart, sondern mehr Geld verprasst wird. Zum Beispiel für Inseratenkorruption.
Mit der „neuen Volkspartei“ ist eine Blase geplatzt. Übrig geblieben ist die altbekannte, schwarze ÖVP. Auch in den Umfragen liegt sie kaum besser als unter Reinhold Mitterlehner. Umso schlimmer sind die Affären für sie, die nun aus ihren Reihen kommen.

„Für die gesamte Volkspartei sind schwarze Affären bedrohlicher als türkise.“

Mit Vorarlberg werden, wie mit jedem Land, gewisse Mythen verbunden. Alemannen seien anständig, korrekt und sparsam, heißt es etwa. Solche Verallgemeinerungen mögen absurd sein, sie halten sich jedoch hartnäckig. Also ist die Verwunderung über die Vorgänge in der ÖVP und in ihrem Wirtschaftsbund außerordentlich groß. In Berichten und Kommentaren fern des Arlbergs schwingt mit, dass man das anderen zugetraut hätte. Aber Vorarlbergern? Funktionären der Partei von Markus Wallner, von dem man den Eindruck hatte, alles mit ruhiger Hand zu kontrollieren?
Für die ÖVP sind schwarze Affären bedrohlicher als türkise. Auch in Niederösterreich sorgen Inserate des von der Partei dominierten Landes in der Partei nahestehenden Publikationen für Schlagzeilen. Rufe nach einem Untersuchungsausschuss werden laut. Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner kann derlei nur aussitzen und hoffen. In Oberösterreich gestand Ex-Landeshauptmann Josef Pühringer (ÖVP) schon vor Jahren, wer seine Partei unterstützen wolle, müsse nur in ihrer Zeitung inserieren. Damals wurde das belächelt. Heute weiß man, wie derlei abläuft.
Auch andere Parteien mag das unter Druck setzen. Die SPÖ etwa in Wien und im Burgenland. Die ÖVP ist jedoch viel mächtiger, sie führt die meisten Gemeinden und auch zwei Drittel der Länder. Auf Bundesebene ist sie noch einflussreicher. Von daher haben ihre Leute mehr Gelegenheiten, Macht zu missbrauchen. Ob und wie sehr sie es wirklich tun, wird jetzt ausgeleuchtet, nachdem in Vorarlberg so Haarsträubendes zu Tage getreten ist.

Alles in allem geht es um Existenzielles für die gesamte Volkspartei. In ihren Reihen scheint das noch nicht angekommen zu sein. Große Parteien können tief fallen. In Italien haben sich die Christdemokraten aufgelöst. In Frankreich kamen die Sozialisten, die mit François Hollande in den 2010er-Jahren noch einen Präsidenten gestellt hatten, mit ihrer Kandidatin Anne Hidalgo vor zwei Wochen auf 1,75 Prozent. Nach unten gibt es kein Limit – wenn man nicht rechtzeitig zu einer umfassenden, echten Erneuerung schreitet, die weit über türkises Blendwerk hinausreicht.

Johannes Huber betreibt die Seite dieSubstanz.at – Analysen und Hintergründe zur Politik.