Zweierlei Maß
Immerhin wird darüber diskutiert: Warum hat die Suche nach dem kleinen „Titanic-U-Boot“ im Nordatlantik viel mehr Aufmerksamkeit erregt als der Untergang eines Fischkutters kurz davor im Mittelmeer? Beim U-Boot mit fünf Menschen an Bord, die bei einer Implosion ums Leben gekommen sein dürften, ist sogar der Name („Titan“) geläufig. Beim rostigen Schiff, bei dessen Untergang wahrscheinlich mehr als 500 Menschen in den Tod gerissen worden sind, ist nicht einmal das der Fall.
„Beim rostigen Kutter, bei dessen Untergang wahrscheinlich mehr als 500 Menschen in den Tod gerissen worden sind, ist nicht einmal der Name geläufig.“
Die Auseinandersetzung damit ist wichtig. Gerade weil es um quälende Fragen geht: Sind Superreiche, die sich um mehr als 200.000 Euro einen Tauchgang zur „Titanic“ leisten können, wichtiger als Frauen und Männer, die ihr letztes Geld ausgegeben haben, um mit ihren Kindern vielleicht in eine bessere Welt gelangen zu können?
Vorsicht! Beim U-Boot ist von vorherein bekannt gewesen, wer sich darin befindet. Es gab Bilder von den Passagieren, sie hatten ein Gesicht. Das schuf Nähe. Zweitens: Bis zuletzt hatte es Hoffnung für sie gegeben, hatte es sich um einen Wettlauf mit der Zeit gehandelt. Sich dem zu entziehen und demonstrativ unberührt zu bleiben, wäre kein Ausdruck von Menschlichkeit gewesen. Im Gegenteil.
Das Problem ist vielmehr, dass sich die Katastrophe vor der griechischen Küste einreiht in eine unendliche Serie von Katastrophen. Sie sind „normal“ geworden. Man hat sich daran gewöhnt. Wobei es nicht um Selbstschutz insofern geht, als man nur beschränkt Leid an sich herankommen lassen kann. Es geht darum, dass sich jeden Tag hunderte Namenlose auf ebensolchen Booten auf den Weg nach Europa machen und Meldungen über Tote und Vermisste kaum noch etwas auslösen.
Ausschlaggebend dafür ist vor allem auch dies: Gegen Geflüchtete wird eine Art Krieg geführt, bei dem sie die Feinde sind, die es abzuwehren gilt. Sogenannte „Pushbacks“ dienen dazu, sie zur Rückkehr zu zwingen. Dass sie dabei zugrunde gehen können auf hoher See, wird in Kauf genommen. Hintergedanke: Vielleicht schreckt ja das all jene ab, die erwägen, nachzukommen.
Österreichische Politik spielt hier eine verhängnisvolle Rolle: Sie beschränkt sich darauf, den Eindruck zu vermitteln, dass ausschließlich geschlossene Grenzen helfen würden. Entweder europäische oder halt nationale. Als müsse eine Festung errichtet werden, an deren Außenmauern hässliche Szenen unvermeidlich wären. Als würde „die EU“ von vorne bis hinten versagen.
Ist das wirklich so eindimensional? Nein, es entspricht lediglich einer Stimmungsmache mit Blick auf den nächsten Urnengang. Mit dem Schüren von Ängsten durch die bloße Darstellung von Bedrohungen lässt es sich am einfachsten erfolgreich sein.
Stattdessen wäre es notwendig, dass sich Österreich endlich wieder als konstruktiver Teil der EU begreift, auf die Beseitigung von Missständen drängt und an Lösungen mitwirkt. Die realen Herausforderungen sind so groß, dass es nur über die Union gelingt, ihnen gerecht zu werden und dabei auch humanitären Mindeststandards wieder zum Durchbruch zu verhelfen. Anders ausgedrückt: Allein die EU kann zum Beispiel mit asiatischen und afrikanischen Staaten Migrationsströme eindämmen und dafür sorgen, dass Menschen auf einem zumutbaren Weg Zugang zu einem Asylverfahren erhalten.
Johannes Huber betreibt die Seite dieSubstanz.at – Analysen und Hintergründe zur Politik.
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